Bildschirmfoto 2023 01 25 um 17.28.32

Gluten erklärt

Immer mal wieder herrscht eine große Verwirrung darüber, was eigentlich Gluten ist. Daher soll dieser kurze Post Aufschluss darüber geben, von was wir eigentlich sprechen. Also los.

Gluten ist ein großes Thema bei uns im Blog. Ich persönlich bin tief davon überzeugt, dass diese aus evolutiver Sicht neue Errungenschaft auf dem Speiseplan des Menschen allerlei (stille, heimliche) Probleme macht, die über die Jahre zu großen gesundheitlichen Problemen auswachsen.

Warum ich das glaube, ist Thema in vielen Beiträgen, zum Beispiel hier.

Was versteht man eigentlich unter Gluten?

Oft genug spreche ich also von Gluten. Manchmal von Gliadin. In beiden Fällen spreche ich synonym für das Weizenprotein. Und in der Regel ist genau das damit gemeint. Das rührt daher, dass Weizen eben die Haupt-Getreideart ist, die bei uns auf dem Speiseplan steht. Drum verstehen Menschen unter „glutenfrei“ in der Regel auch weizenproteinfrei. Keine Brötchen beim Bäcker eben.

Doch so stimmt das eigentlich nicht. Denn nicht nur Weizen (Gattung: Triticum) enthält Gluten. Auch Gerste (Hordeum), Roggen (Secale) und Hafer (Avena) enthalten nach Definition Gluten. Und die meisten wissen nicht, dass auch Emmer, Einkorn, Dinkel der Gattung Weizen angehören, wozu auch Hartweizen und Weichweizen gehören. Auch die enthalten also Gluten.

Ei, ei, ei. So kompliziert, nicht wahr?

Bevor wir uns den Stammbaum der oben genannten Gattungen anschauen, will ich erst noch kurz auflösen, was man unter Gluten eigentlich versteht: Gluten ist ein Sammelbegriff für die Speicherproteine der Getreidesorten, die bei Zöliakie-Patienten eine immunologische Reaktion auslösen. Ach so!

Und diesbezüglich gilt, dass alle der oben genannten Süßgräser-Gattungen eine immuologische Reaktion bei genetisch anfälligen Individuen auslösen können. Deshalb sprechen wir bei Gluten nicht nur von Weizen (und damit z. B. von Dinkel), sondern auch von Gerste, Roggen und Hafer. Reis, Mais und Hirse gehören nicht dazu, sie lösen keine immunologische Reaktion aus, sind also von Haus aus glutenfrei

Der Getreide-Stammbaum: Gluten entwicklungsgeschichtlich

Schauen wir uns die Verwandtschaft der verschiedenen Süßgräser-Familien der Übersicht halber doch mal genauer an:

Bildschirmfoto 2023 01 25 um 14.59.02
Quelle: The ‘inner circle’ of the cereal genomes

Wir sehen – von mir, je nach Verträglichkeit in rot, orange und grün, umrandet – die verschiedenen Süßgräser-Gattungen, die bei uns auf dem Speiseplan stehen. Alle gehören sie zur Familie der Süßgräser, deren Geschichte so etwa vor 50-70 Millionen Jahren begann. Ganz früh sehen wir eine Abspaltung der drei Unterfamilien: Ehrhartoideae, Pooideae und Panicoideae.

Weizen, also die Gattung Triticum, gilt als der Hauptverursacher von Zöliakie. Das Weizenprotein ist also toxisch für diese Menschen. Eng verwandt mit dieser Gattung ist die Gattung Hordeum, also die Gerste. Dazwischen fällt die nicht eingezeichnete Gattung Secale, der Roggen. Die drei Gattungen stehen sozusagen im Epizentrum des Zöliakiegeschehens und sind entwicklungsgeschichtlich relativ eng miteinander verwandt.

Sie enthalten natürlich nicht dasselbe Speicherprotein (dazu gleich mehr), sie scheinen aber so eng miteinander verwandt zu sein, dass die jeweiligen Speicherproteine der Gattungen die gleiche immunologische Reaktion bei genetisch anfälligen Individuen auslösen können.

Weiter weg, die Trennung erfolgt vor 25 Mio. Jahren, ist die Gattung Avena, der Hafer. Der gehört zwar derselben Unterfamilie wie Weizen, Roggen und Gerste an (Pooideae), sind sich also noch irgendwie ähnlich, aber Hafer ist immunologisch nicht mehr so problematisch und kann von vielen Zöliakie-Betroffenen in bestimmten Mengen gegessen werden.

Entwicklungsgeschichtlich sehr weit entfernt ist der Reis. Die Trennung der Unterfamilien erfolgte schon vor 46 Millionen Jahren. Noch weiter zurück liegt die Abspaltung von Mais und Hirse (vor 50-70 Mio. Jahren). Dies scheint sich auch mit Blick auf die immunologischen Probleme widerzuspiegeln, denn Mais und Hirse erzeugen keine toxische Immunreaktion bei Zöliakie.

So weit, so gut.

Gluten aus Sicht der Osborne-Fraktionen

Schauen wir uns nun mal noch kurz die immunologisch problematischen Speicherproteine der Getreidesorten an. Die Speicherproteine von Getreiden hat ein Chemiker mit dem Nachnamen Osborne vor bald 150 Jahren näher beschrieben, deshalb nennen die sich Osborne-Fraktionen. Wikipedia gibt uns eine Tabelle an die Hand:

Bildschirmfoto 2023 01 25 um 15.21.20
In rot: „Gluten“; in Grün: „Glutenfrei“ 

Die Speicherproteine der Getreidesorten enthalten vier verschiedene Untergruppen, nämlich Albumine, Globuline, Prolamine und Gluteline. Besonders die beiden letzteren, also Prolamine und Gluteline sind entscheidend. 

Prolamine sind besonders prolin- und glutaminreiche Proteine – daher auch der Name –, die unsere Verdauungsenzyme nur schwer aufspalten können (Q). Wir sind schlicht und ergreifend enzymatisch nicht daran adaptiert, solche Proteine gut zu verdauen. Und genau diese Prolamine sind es auch, die in Zöliakie so hoch toxisch wirken.

Auch der Begriff Glutelin leitet sich von Glutamin und Prolin ab. Auch sie gelten als immunologisch problematisch bei Zöliakie, sie sind aber weitaus weniger erforscht als Prolamine. Entsprechend lassen sich hier auch kaum Aussagen treffen. Allerdings gelten sie als weniger verdauungsresistent (Q).

Aufgrund dieser einzigartigen Aminosäurenzusammensetzung (…) sind bestimmte Proteinsequenzen in Gluten sehr resistent gegen den Abbau durch menschliche gastrointestinale Proteasen, darunter Pepsin, Trypsin, Chymotrypsin, Carboxypeptidasen A und B, Elastasen und Enzyme der Dünndarm-Bürstengrenzmembran.

Der Grund für die Ineffizienz dieser Proteasen beim Abbau dieser Glutensequenzen ist das generelle Fehlen einer Spaltstellenaktivität für die Post-Prolin-Reste innerhalb der Kette.

Jetzt schließt sich der Kreis: Unter Weizen finden wir in der Tabelle in der Zeile Prolamine den Begriff Gliadin, den auch wir häufig verwenden. Beim Roggen heißt das Prolamin Secalin, beim Hafer ist es Avenin und bei der Gerste ist es Hordein.

All diese Prolamine sind sich strukturell so ähnlich, dass sie die gleiche oder eine ähnliche immunologische Reaktion – bekannt als Zöliakie – auslösen können, weswegen man sie unter Gluten zusammenfasst. Hier mit eingeschlossen sind auch Gluteline.

Es ist also die strukturelle Ähnlichkeit und damit auch die ähnliche gesundheitliche Wirkung, die dazu führen, dass man verschiedene Proteine unter einem Schirmbegriff – Gluten – zusammenfast. Mais, Reis und Hirse lösen diese toxische Reaktion bei Zöliakie nicht aus, deshalb enthalten sie kein Gluten, obwohl auch sie Prolamine (und Gluteline) enthalten. Aha!

Kurze Anmerkung: Roggen, Gerste und Hafer enthalten kein Gliadin. Das wird fälschlicherweise häufig falsch beschrieben, wohl vor dem Hintergrund, dass Gluten gemeint ist. Der Tabelle oben kann man die genaue Bezeichnung des jeweiligen Prolamins der jeweiligen Getreidesorte entnehmen.

„Gluten“ in der Praxis

Daraus könnten sich ein paar Missverständnisse ergeben, die ich jetzt zu guter Letzt noch aufklären möchte. Ich spreche hier also häufig von Gluten und meine damit Weizengluten, genau genommen Gliadin. Eben weil Pizza, Nudeln, Brötchen und oft Brot die Kernkomponente von dem ist, was wir so zuführen.

Wie bereits oft dargelegt, gilt die toxische Wirkung von Gliadin bzw. Weizenprotein nicht nur für Zöliakie-Betroffene. Der berühmte Glutenforscher Dr. Fasano (Harvard) erklärt uns ja immer: Gluten ist für jeden toxisch. Der Körper betrachtet es als Pathogen. Nur nicht jedes Immunsystem reagiert gleich darauf.

Fakt ist, Roggen und Gerste wirken sehr ähnlich. Hafer nur noch abgeschwächt. Mais, Reis und Hirse lösen zwar keine Zöliakie aus, enthalten aber auch Prolamine und Gluteline. Sie sind also möglicherweise nicht so toxisch, und dennoch sind sie für uns eventuell kein ideales Nahrungsmittel.

Drum spreche ich bei Empfehlungen oft vom Überbegriff, nämlich dem Vermeiden von (Süß-)Gräsern, womit die komplette Pflanzenfamilie gemeint und abgedeckt ist. Das sollte man bei gesundheitlichen Problemen zumindest phasenweise getestet haben. Den meisten geht es schon ohne Weizen, Roggen und Gerste erheblich besser.

Im praktischen Alltag gibt es auch hier eine einfache Konsequenz: Je nach „Glaubensrichtung“ lassen manche sie komplett weg, vor allem in der Low carb-Szene. Ich persönlich finde, dass herkömmliche Mengen von Reis, Mais und Hafer in Ordnung sind, weil wir sie eben nicht als Hauptnahrungsmittel verzehren. Paul Jaminet sprach in diesem Zusammenhang einmal von „Safe Starches“. Den Begriff finde ich ganz okay und hier verwendbar.

Zusammenfassung und Schlusswort

Womit ich, glaube ich, zum Ende kommen kann. Es ist, denke ich, hinreichend er- und geklärt. Fassen wir nochmal kurz zusammen:

  • Süßgräser stehen erst seit Erfindung des Ackersbaus vor rund 10.000 Jahren auf dem Speiseplan des Menschen. Das macht 0,3 % unserer Entwicklungszeit seit der Entstehung der Gattung Homo. Es ist fraglich, ob wir daran optimal adaptiert sind.
  • Fakt ist: Sie enthalten teils problematische Speicherproteine, die wir enzymatisch nur schwer aufspalten können.
  • Als Gluten bezeichnet man die Speicherproteine aller Süßgräser-Gattungen, die bei Zöliakie-Betroffenen eine Immunreaktion auslösen, dazu gehören neben Weizen auch Roggen, Gerste und – abgeschwächt – Hafer.
  • Entwicklungsgeschichtlich sind glutenhaltige Getreidesorten näher beieinander als glutenfreie.
  • Die Hauptverursacher von immunologisch toxischen Reaktionen sind prolin- und glutaminreiche Prolamine (und Gluteline), s. g. Osborne-Fraktionen, die in allen Getreidesorten vorkommen.
  • Gliadin ist das Prolamin des Weizens.
  • Zwar lösen Prolamine und Gluteline von Reis, Mais und Hirse keine toxischen Reaktionen bei Zöliakie-Betroffenen aus. Es ist jedoch fraglich, ob sie als Grundnahrungsmittel dienen sollten. Herkömmliche Mengen davon dürften unproblematisch sein.

Nun sollte auch geklärt sein, warum Hafer nicht glutenfrei ist, obwohl er eigentlich glutenfrei ist. Oder umgekehrt. Immer noch nicht verstanden? Dann nochmal:

Aus Sicht der Zöliakie-Forschung enthält Hafer Gluten, es wirkt jedoch bei vielen Zöliakie-Patienten nicht toxisch, ist also per definitionem glutenfrei. Es ist in jedem Fall glutenfrei, wenn man unter Gluten nur Weizenprotein bzw. das Gliadin versteht oder sehr eng verwandte Proteine wie Roggen und Gerste.

Im Handel wiederum gilt Hafer als glutenfrei, wenn eine Kontamination mit glutenhaltigen Getreidesorten, also z. B. Weizen, ausgeschlossen werden kann. Das ist dann entsprechend deklariert. Der Handel geht also davon aus, dass Hafer kein Gluten enthält. Drum übernehme ich persönlich diese Definition auch und bezeichne Hafer als glutenfrei, obgleich ich weiß, dass er potentiell problematische Speicherproteine enthält. :-)

Wow, so complicated.

PS: Noch komplizierter wird es, wenn im Zusammenhang von Gluten fälschlicherweise die Speicherproteine aller Getreidesorten gemeint sind. Das kommt auch vor. Das ist aber mehr oder weniger komplett falsch, auch wenn ich nachvollziehen kann, warum es dazu kommt.

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

12 comments On Gluten erklärt

  • Hi,
    dann bleibt als Brot-Alternative ja eigentlich nur Hirsebrot, richtig?

  • Hallo Chris, vielen Dank für die detaillierte, interessante Ausführung.
    Mich würde noch zusätzlich die genaue Prolamin Zusammensetzung von Dinkel interessieren. Bekannt ist, dass Dinkel keine ω-5-Gliadin Fraktion enthält, die vermutlich der Hauptauslöser für Unverträglichkeiten bzw. die allergische Reaktionen ist.
    Auf was führst Du die bessere Verträglichkeit (nicht bei Zöliakie) zurück?
    Vielen dank und vielGrüße
    Rosemarie

    • Ich sehe hier keine bessere Verträglichkeit. Das ist eher ein Mythos. Studien zeigen, dass typische Zöliakie-Schleimhäute bei Dinkel quasi gleich immunologisch reagieren. Andere Studien legen nahe, dass Menschen nur dann einen Unterschied zwischen Weizen und Dinkel feststellen, wenn sie wissen, dass es Weizen oder Dinkel ist. Abgesehen davon: α-Gliadin reagiert immunologisch am stärksten. BG

  • Besten Dank für die gute Zusammenfassung – ich verstehe komplexe Zusammenhänge dank eurer tollen Arbeit nun richtig gut. Und ich freue mich auf alle weiteren Themen.

  • Hallo Chris,
    vielen Dank für die interssanten Ausführungen, die du im Schlusswort gut zusammengefasst hast. Das ist schon für den Laien alles recht kompliziert. Eine Frage zu Buchweizen: Enthält die Getreideart auch Gluten?
    Viele Grüße
    Regine

  • Hallo Chris,
    am Schluss deines Textes hast du in der Zusammenfassung im 3.Spiegelstrich das Wort „Weizen“ vergessen. Dort sind nur Roggen, Gerste und („abgeschwächt“) Hafer erwähnt. Da Weizen das Hauptproblem sein dürfte, sollte er in einem zusammenfassenden Satz nicht fehlen.
    Erwähnenswert fände ich, dass man mit zeitweiser Abstinenz der glutenhaltigen Süßgräser die Toleranz dauerhaft oder zeitweise wieder erhöhen kann.
    Gruß, Mechtild

    • Hi Mechtild,
      danke für deinen Hinweis.
      Tatsächlich war „dazu gehören“ im Sinne von „darüber hinaus“ gemeint. Also: „Darüber hinaus gehören Roggen, Gerste und abgeschwächt Hafer zu den zöliakierelevanten Getreiden.“ Warum? Weil ich es an der Stelle als selbstverständlich erachte, dass man weiß, dass es hauptsächlich um Weizen geht. Ich habe es jetzt aber angepasst: „… dazu gehören neben Weizen auch Roggen, Gerste und – abgeschwächt – Hafer.“
      Meines Wissens erhöht sich nicht die Toleranz gegenüber Gliadin oder verwandten Proteinen. Nur die Reaktionen des Körpers (z. B. Antikörper) fallen wieder ab und brauchen bei Konsum dann auch wieder eine kurze Zeit, bis sie voll ausgeprägt sind. Diese Übergangsphase sollte man aber nicht als Toleranz verstehen.
      Beste Grüße
      Chris

  • Lieber Chris
    Wie immer eine hervorragende Aufschlüsselung und Erklärung der Problematik. Stellvertretend für alle interessierten Leser möchte ich Dir für die tolle Arbeit danken die Du für uns alle leistest.
    Vielen herzlichen Dank
    Irmbert

Leave a Antwort:

Your email address will not be published.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .

Site Footer