Man muss sich einmal vorstellen, dass man bis tief in die 90er-Jahre davon ausging, dass das Hirn weitestgehend ist wie es ist.
Du bist (nicht) wie du bist!
Im Kern veränderte sich die Sichtweise diesbezüglich über nahezu das komplette 20. Jahrhundert nicht. Es war einfach klar: Neuronen werden nach der frühen Entwicklung nicht mehr regeneriert und das Gehirn behält seine Struktur im Erwachsenenalter weitgehend bei.
Erst durch moderne Bildgebungsmethoden und experimentelle Studien wurde zunehmend klar, dass das Gehirn auch im Erwachsenenalter strukturelle und funktionelle Anpassungen vornehmen kann. Man spricht seitdem von Neuroplastizität.
Für mich ein sensationeller Begriff. Denn das hört sich wandelbar, fluide, flexibel, kurz: anpassungsfähig an. Unsere Neuronen „bewegen sich“ konstant, strecken sich, suchen sich neue Partner, die zusammen neue Schaltkreise etablieren. Das Gehirn gilt heute als vielleicht das wandelbarste und anpassungsfähigste Organ unseres Körpers.
Genial, nicht wahr?
Wer Milchshake bestellt, bekommt Milchshake
Leider, leider wissen die meisten Menschen nix davon. Die verstehen zwar, dass man (negative) Verhaltensweise etablieren kann, dass man neue Inhalte lernen kann – etwa Liedtexte. Aber dass man das Gehirn, also z. B. seine Gedankeneinfalt, eigentlich sein ganzes inneres Wesen, neu programmieren kann, scheint vielen fremd.
Die meisten nutzen die Wandelbarkeit des Gehirns zu ihrem Nachteil: Wer ständig Milchshakes trinkt, präferiert Milchshakes. Eben nicht den Salat mit Hühnchen (Q).
Das wiederum ist die neurowissenschaftliche Kernmaxime der kognitiven Verhaltenstherapie, eines der wichtigsten Arbeitswerkzeuge in der modernen Psychotherapie. Also die Erkenntnis, dass ich mein Hirn und damit Verhaltens- und Denkprozesse wirksam umprogrammieren kann.
Ich weiß, jetzt denkt jeder an lange Sitzungen und ätzende Gespräche mit dem Psychologen. An harte, lange Arbeit an sich selbst. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn neue Schaltkreise etablieren sich prinzipiell in jeder Sekunde des Tages.
Jetzt sofort mehr Meta-Ebene!
Schon alleine die einfach Beobachtung der eigenen Gedanken und Handlungsmuster („Meta-Ebene“) etabliert bzw. stärkt neuronale Schaltkreise, die zwangsläufig dazu führen werden, dass wir affektstabiler – im Gegensatz zu affektlabil – werden. Allein die innere Beobachtung.
Gelassenheit und Stressresistenz haben so gesehen oft nichts damit zu tun, noch härter an sich zu arbeiten, alles über Bord zu werfen oder gar ein anderer Mensch werden zu müssen. Die Etablierung einer inneren Meta-Ebene reicht oft aus, um erheblich gefasster und ruhiger zu wirken und dabei bessere Entscheidungen zu treffen.
Dieses neue Verhalten wird durch Reinforcement gestärkt: Wenn wir erleben, dass wir mit dieser Herangehensweise unsere Ziele erreichen oder uns nicht länger in Schuldgefühlen verlieren, weil wir uns wieder mal nicht im Griff hatten, fällt es uns leichter, diese neuen Denk- und Verhaltensweisen dauerhaft beizubehalten.
Neuroplastizität ist einfach herrlich
Klingt nach win-win. Und genau das ist für mich dieser herrliche Begriff Neuroplastizität: Durch einfache Wiederholung (neue) Schaltkreise stärken, die ganz automatisch dafür sorgen, dass ich anders denken und handeln werde – mehr so, wie ich es gerne hätte.
PS: Dieses Thema reicht so weit, dass Mütter aber auch Väter spezifische Aktivitäts- und Strukturmuster im Gehirn zeigen (Q, Q). Würde man solche Daten systematisch sammeln, könnte man vielleicht vorhersagen, mit welcher Personengruppen man es zu tun hat. So profund lenken äußere Einflüsse die Neuroplastizität des Gehrins.
2 comments On Heilige Neuroplastizität
Im zweitletzten Satz fehlt noch ein „hat“
Thx!