Eine Studie aus dem Jahr 2008 wirft Fragen auf: Sie zeigt, dass nahezu 80 % der Studien-Teilnehmer, kanadische Ureinwohner, eine bestimmte Gen-Mutation haben, die dafür sorgt, dass der Fettstoffwechsel „nicht richtig funktioniert“. In der Tat betroffen ist das Gen bzw. Protein namens „Carnitin-Palmitoyltransferase 1a“, kurz CPT1a. Welche Konsequenzen hat dies für unsere Sicht der Dinge bezogen auf „Low-Carb“-Ernährungsformen?
Das „Inuit-Paradox“
Im Buch thematisiere ich mein Inuit-Paradox. Dieses Inuit-Paradox ist nicht, wie ursprünglich angenommen, die Tatsache, dass diese Menschen von Fett leben und trotzdem gesunde Arterien haben. Nein – das eigentliche Paradoxon ist, dass diese Menschen keine Kohlenhydrate essen und trotzdem nie in der Ketose sind – ganz im Gegenteil, sie sind hervorragend Glukose-tolerant (Heinbecker, 1928).
Ich habe hier schon mehrfach berichtet über eine so genannte „physiologische Insulin-Resistenz“. Das ist ganz einfach zu erklären. Gibt man dem Körper keine Kohlenhydrate, dann sorgt der Körper dafür, dass der Muskel auch keine Kohlenhydrate mehr aufnimmt. Natürlich nur aus dem Grund, dass Glukose „gespart“ wird für lebenswichtige Organe (Beispiel Gehirn). Dies finden wir bei den Inuit nicht.
Was wir bei den Inuit allerdings finden ist, dass sie keinen für ketogene Diäten typischen respiratorischen Quotienten (kurz RQ) aufweisen, der normalerweise bei 0,7 liegen müsste – das wäre reine Fettverbrennung. Stattdessen findet man dort einen RQ von > 0,85. Das ist ein Wert, den wir auch bei uns finden und er bedeutet, dass Kohlenhydrate und Fette gleichzeitig oxidiert werden.
Der Hype um „low carb“ und das Stützen auf „Eskimo-Diät“
Low-Carb-Ernährungsformen eignen sich hervorragend um rasch Gewicht zu verlieren. Was hier einige verwechseln ist ein Zustand der temporären Kalorienreduktion mit einem Zustand der konstanten isokalorischen Gegebenheiten. Oder anders ausgedrückt: Eine Reduktionsdiät, die viel Protein und wenig Kohlenhydrate enthält ist das eine. Das andere ist eine dauerhaft praktizierte kohlenhydratreduzierte Ernährung mit deutlich mehr Nahrungsfett, um den Körperfettanteil zu halten. Das sind, metabolisch betrachtet, zwei völlig verschiedene Zustände.
Viele Menschen haben daher von „High-Protein-Reduktionsdiäten“ geschlossen auf eine lebenslange Ernährungsform, die keine oder sehr wenige Kohlenhydrate enthält. Der Denkfehler hierbei ist, dass eine gut geplante (!) Reduktionsdiät immer dafür sorgen wird, dass wir uns besser fühlen – vor allem auch und gerade dann, wenn der Anteil des Nahrungsproteins hochgehalten wird.
Wird der Körper metabolisch gesünder, dadurch, dass überschüssige Fettsäuren (Hüftspeck! Triglyceride im Blut! Leberfett!) verbrannt werden, fühlt man sich insgesamt sehr viel besser. Das ist logisch.
Doch wir können andere Ernährungsformen nicht unter den Tisch fallen lassen. So beweist uns Atilla Hildmann nach wie vor, dass viele Menschen auch sehr erfolgreich sein können mit einer veganen Ernährung, die oftmals sehr Kohlenhydrat-orientiert daherkommt.
Und diese Menschen berichten dasselbe, wie die Low-Carb-Anhänger. Heißt das jetzt, dass vegane Ernährung „die“ Ernährung des Menschen darstellt? Wohl kaum.
Hier greift also ein tiefes Missverständnis, das dadurch bestärkt wird, dass einige Ernährungsexperten (neuerdings!) behaupten, dass Homo sapiens schon immer lebte basierend auf einer „Protein-Fett-Ernährung“ und dies rechtfertigen mit Kulturen wie Masai und Inuit. Dabei wird, noch einmal, vergessen, dass es ganze Kulturen gibt, die sehr gesund leben, frei von jeglicher Zivilisationskrankheit, die eine reine Kohlenhydrat-basierte Ernährung praktizieren. Hier sei die Arbeit von Staffan Lindeberg hervorzuheben, der die Kitava-Bewohner ausgiebig untersucht hat. Dieser Wissenschaftler (& Arzt) zeigte uns schon vor Jahren in einer TV-Dokumenation, wie er Kartoffeln im Supermarkt einkauft. Er frage sich, warum jeder glaubt, die „Paläo-Diät“ sei eine Low-Carb-Ernährung.
Entgegen der landläufigen Meinungen … Er ist sehr schlank und hat hervorragende Blutwerte.
Genetische Anpassungen und ihre Folgen
Offensichtlich hat es keinen Sinn darüber zu spekulieren, an welche Ernährungsform wir alle angepasst sind. Viel mehr sollten wir uns fragen, wie es mir persönlich geht bei der jeweiligen Ernährungsform – weiter sollte man sich fragen, in wie weit verkorkste Blutwerte dabei eine Rolle spielen und vor allem auch, wie wir die letzten Jahre gelebt haben. So ist es, wie du sicher weißt, keine Seltenheit, dass Menschen massive Probleme mit der ordentlichen Kohlenhydrat-Oxidation haben, wenn sie jahrelang kein Gramm davon gegessen haben.
Was wir nicht tun sollten: Dogmatismus, Fundamentalismus und … die Ernährungsform zur Religion machen.
Stattdessen sollten wir die Grund- und Eckpfeiler einer natürlichen Lebensweise beherzigen. Was viele dabei unter den Tisch fallen lassen sind banale Dinge, wie sozialer Kontakt, frische Luft, Anblick der Natur, Kontakt zu Tieren, aber auch ernährungsphysiologische Ansätze wie eine deutlich gesteigerte Protein-Zufuhr, mehr Spurenelemente und mehr Substanzen, die der Körper direkt als Bausubstanz verwenden kann (als Beispiel: Gelatine).
Eine Studie aus dem Jahr 2008 zeigt uns Verblüffendes: Die kanadischen Ureinwohner (Ernährung ähnlich einer Inuit-Ernährung) haben eine spezielle genetische Mutation, die dafür sorgt, dass diese Menschen eine dramatisch verringerte Kapazität haben, um Fettsäuren zu oxidieren.
Dies hat weitreichende Folgen: Diese Menschen können nicht „einfach so“ fasten, denn das würde kurzfristig dafür sorgen, dass sie eine Unterzuckerung entwickeln, da der Körper seine benötigte Energie – bei ihnen – nicht hauptsächlich aus Fettsäuren speisen kann.
Das wirklich Erstaunliche ist die Tatsache, dass 80 % der getesteten Individuen diese Gen-Variation aufweisen, was dafür spricht, dass es ein „evolutiv erfolgreiches“ Modell der Angepasstheit darstellt.
Was diese Untersuchung definitiv zeigt: Kanadische Ureinwohner, die sich ernähren wie Inuit, können nicht ausreichend Keton-Körper bilden (als Produkt einer gesteigerten Fettsäure-Oxidation).
Lange Rede, kurzer Sinn
Das heißt für uns … Wir wissen nicht, welche Mutationen eine jeweilige Bevölkerungsgruppe aufweist, die sie prädestiniert (oder auch nicht), eine jeweilige Ernährungsform zu praktizieren oder eben dafür sorgt, dass gewisse Dinge nicht so laufen, „wie wir uns das vorstellen“.
Das hier ist definitiv nur ein Beispiel. Es sollte uns aber zu denken geben, immer dann, wenn wir diverse Bevölkerungsgruppen als Beispiel wählen, um unsere eigene Ernährungsphilosophie zu legitimieren.
Wann immer du also hörst: Bevölkerungsgruppe XY ist perfekt gesund, deshalb muss es die „originale Diät“ eines Homo sapiens sein, dann solltest du an Gen-Mutationen denken, die uns solche Sache zeigen:
Homo sapiens belebte schon immer diverse ökologische Nischen
Es gibt nicht DIE „Paläo-Diät“
Referenzen
Greenberg, Cheryl R et al. „The paradox of the carnitine palmitoyltransferase type Ia P479L variant in Canadian Aboriginal populations.“ Molecular genetics and metabolism 96.4 (2009): 201-207.
Heinbecker, Peter. „Studies on the metabolism of Eskimos.“ Journal of Biological Chemistry 80.2 (1928): 461-475.