science based albert

Science based: Was es ist und was es nicht ist

 

Ich schreibe im letzten Artikel:

Unbestritten ist die Tatsache, dass es die Gattung Homo – > 2 Millionen Jahre alt – nur deshalb gibt, weil irgendein Vertreter vor uns auf die Idee gekommen ist, sich tierische Produkte, Fleisch und hochwertige Tierfette einzuverleiben. Es gibt sogar Funde, 3 Millionen Jahre alt, die zeigen, dass Knochen gebrochen und das Mark ausgeschabt wurde. Wohlgemerkt: Lange, bevor es die Art Homo sapiens überhaupt gab.

Kommentiert einer, sinngemäß:

Alles falsch. Alles Halbwissen. Kaum zu ertragen. Und die Entstehung von Gattungen hat nichts mit der „Idee“ zu tun, dass „irgendein Vertreter sich tierische Produkte und Fleisch“ einverleibt. 

Und so weiter. Heißt übersetzt: Wir verbreiten Mist, weil nicht science based. Der Klassiker.

Einmal abgesehen davon, dass aus dem Kommentar selbst klar wird, dass derjenige sich noch nie ernsthaft mit der Human-Evolution befasst hat: stimmt. Denn so, wie das da oben steht, würde es natürlich in keiner wissenschaftlichen Arbeit auftauchen.

Erstens, viel zu salopp formuliert. Zweitens, stark gekürzt. Drittens, ohne jegliche Referenz. Ist die Aussage deshalb falsch oder gar nicht „science based“? Nein, denn etwas weniger abstrahiert und besser formuliert könnte es heißen:

Damit eine neue Gattung im Zuge einer Linie entsteht, müssen sich Arten deutlich von Arten der vorherigen Gattung unterscheiden. Das ist bei der Gattung Homo etwas schwammiger, da viele Evolutionsbiologen die ersten beiden Arten der Gattung Homo, Homo rudolfensis und Homo habilis, aufgrund ihrer Merkmale auch der Gattung Australopithecus zuschreiben würden. Grundsätzlich ist Evolution ein fließender Prozess, der sich über Jahrtausende und Jahrmillionen hinwegzieht, und ein Prozess, bei dem viele Faktoren eine Rolle spielen.

Bezogen auf die Entstehung der Gattung Homo ist klar, dass Fleisch und Produkte tierischen Ursprungs nicht die eine Ursache für diese Entwicklung waren, aber eine nötige Voraussetzung: Nur dank einer qualitativ hochwertigen Nahrung, dazu zählen sowohl qualitativ hochwertige Fette, Kalorienquellen (z. B. Knochenmark, schon bei späten Australopithecus-Arten vor rund drei Millionen Jahren; McPherron et al. 2010 in Nature) und die für die Gehirnentwicklung nötigen Key-Mikronährstoffe wie Eisen, Zink, Kupfer und Co., konnte sich das Gehirn von späten Australopithecus-Arten (ca. 440 ccm), über Homo habilis (rund 700 ccm) und Homo erectus (rund 1000 ccm) hin zum Gehirn moderner Menschen (mit rund 1300 ccm) entwickeln.

Zeitgleich, und das unterscheidet Homo sapiens von allen anderen Primaten-Arten, verlängerte sich der Dünndarm deutlich, während sich der Dickdarm reziprok dazu verkürzte – ein langer Dünndarm zeigt das vermehrte Zuführen qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel ebenfalls an, ein Merkmal, das sich auch bei Karnivoren zeigt. Solch eine Reduktion der Darmgröße war ebenfalls eine Bedingung dafür, dass das Gehirn so dramatisch wachsen konnte: Ein großer und – wie bei anderen Primaten – energetisch kostspieliger Dickdarm, kann es laut des Kleiberschen Gesetzes nicht neben einem Gehirn geben, das im Vergleich zu anderen Primaten mehr als dreimal so viel Energie verbraucht.

Zusätzlich weisen Isotop-Analysen von frühen europäischen Homo-sapiens- und Homo-neanderthalensis-Individuen darauf hin, dass speziell Neanderthaler wie Top-Level-Karnivoren gegessen haben müssen (Richards et al., 2009). Rekonstruktion der Nahrungsgrundlagen von Homo erectus kam zu ähnlichen Schlüssen (Ben-Dor et al., 2011). Neben Isotop-Analysen zeigen auch morphologische Anpassungen, dass all das bei Australopithecus-Arten nicht der Fall war: Hier war das Gehirn klein, Kauapparate im Vergleich sehr groß und es zeigt sich eine „post canine megadontia“ – Zahn- und Kiefer-Anpassungen, um „harte Pflanzenteile“ zu verdauen (Daegling et al, 2011). Ähnlich, wie das bei noch heute lebenden Primaten der Fall ist, die allesamt hauptsächlich Pflanzenfresser sind. Zusätzlich fällt der belegte und vermehrte Fleischkonsum (vor ca. 2-3 Mio Jahren) mit der Entstehung der Gattung Homo zusammen (vor ca. 2 bis 3 Mio Jahren) (Luca et al., 2010).

Zu behaupten, dass eine veränderte Nahrungsgrundlage nichts mit der Entstehung der Gattung Homo zu tun habe, entbehrt sich also nicht nur jeglicher Grundlage, sondern zeugt auch von Unwissen über wesentliche Züge der Human-Evolution und der Entstehung der Gattung Homo. In der Tat muss davon ausgegangen werden, dass der Konsum von Fleisch und Produkten tierischen Ursprungs, ob der speziellen Rolle im Zuge unserer eigenen Evolution, auch für uns heute noch eine große gesundheitliche Bedeutung hat. Dies zeigt sich auch im Ernährungsverhalten diverser Jäger-und-Sammler-Populationen. Mehr dazu z. B. bei Arbeiten von Loren Cordain (u. a. hier: http://castig.org/wp-content/uploads/2015/04/the-protein-debate-campbell-cordain.pdf)

So ist das hier im Blog. Wenn etwas sehr gekürzt und umgangssprachlich formuliert wird, steht trotzdem eine längere und mit „Evidenz“ belegte Ausführung dahinter. Manchmal verstehen Leser Ausführungen genau deshalb nicht, weil sie zu stark gekürzt sind und – wie oben – Vorwissen voraussetzen.

Natürlich fehlen auch hier sicher noch einige Referenzen. Und auch diese Version ist eigentlich stark gekürzt. Tatsächlich lassen sich solche Abhandlungen ad absurdum verkomplizieren und komplexer machen. Deshalb würde man auch in diesem Text „Fehler“ finden, wenn man’s drauf anlegt.

Immer noch: Populärwissenschaft ≠ Wissenschaft

Leider wird ganz häufig nach wie vor nicht verstanden, dass wir hier im Internet keine „Wissenschaft“ machen, sondern allenfalls Populärwissenschaft. Und das heißt leider Gottes:

VEREINFACHUNG. 

Abstrahieren. Und natürlich wird es je nach Grad der Verarbeitung „wissenschaftliche Lücken“ geben – heißt, jeder akademische Dippelschisser und Erbsenzähler wird natürlich Gründe finden, beispielsweise unsere Quick-Tipps zu kritisieren. Weil ein „Tipp“ nun mal – so leid es mir tut – ein stark vereinfachtes Abbild ist. Deshalb gibt’s die Quelle, also die Studie dazu.

Was science based nicht ist

Evidence based oder science based ist in diesem Gesundheitsinternet heute in aller Munde. Science based ist dabei angelehnt an die evidenzbasierte Medizin (evidence-based medicine):

Definiert wird die Evidenzbasierte Medizin (EbM oder EBM) ursprünglich als der „gewissenhafte, ausdrückliche und umsichtige Gebrauch der aktuell besten Beweise für Entscheidungen in der Versorgung eines individuellen Patienten“. EbM beruht demnach auf dem jeweiligen aktuellen Stand der klinischen Medizin auf der Grundlage klinischer Studien und medizinischer Veröffentlichungen, die einen Sachverhalt erhärten oder widerlegen – die sogenannte externe Evidenz.

So – und das wird heutzutage fröhlich auf Ratschläge im Internet übertragen.

science based

Viele Sportskameraden, die sich science based auf die Fahnen schreiben, auch viele Foren-Helden, haben selbst ja nicht mal einen Tag lang eine naturwissenschaftliche Fakultät besucht. Bei solchen Leuten bedeutet evidence oder science based, die maximal mögliche Menge an Ergebnissen aus RCTs und Meta-Analysen zu zitieren – oder zu wiederholen, was spätestens seit den 80er Jahre sowieso gesicherte Tatsache ist.

Aber evidence oder science based ist dieses Vorgehen gerade nicht. Hören wir doch mal einem Pionier der evidenzbasierten Medizin zu – David Sackett:

Evidenzbasierte Medizin ist nicht auf RCTs und Metaanalysen beschränkt. Es geht darum, die besten externen Beweise zu finden, mit denen wir unsere klinischen Fragen beantworten können. 

Einige Fragen zur Therapie erfordern jedoch keine randomisierten Studien (erfolgreiche Interventionen bei sonst tödlichen Erkrankungen) oder können nicht auf die Durchführung der Studien warten. Und wenn keine randomisierte Studie für die Notlage unseres Patienten durchgeführt wurde, müssen wir den Weg zum nächstbesten externen Beweis verfolgen und von dort aus arbeiten. 

Und aus diesem Grunde gilt:

Evidenzbasierte Medizin ist keine „Kochbuch“-Medizin. Da es einen Bottom-up-Ansatz erfordert, der die beste externe Evidenz mit individueller klinischer Expertise und Patientenwahl verbindet, kann es nicht zu sklavischen, kochbuchartigen Ansätzen der individuellen Patientenversorgung kommen.

Externe klinische Evidenz kann die individuelle klinische Expertise unterstützen, aber niemals ersetzen, und es ist diese Expertise, die darüber entscheidet, ob die externe Evidenz überhaupt auf den einzelnen Patienten zutrifft und, wenn ja, wie sie in eine klinische Entscheidung integriert werden sollte.

(Sackett, 1996)

Verstanden? Es geht wieder einmal um diejenige Person, die „Wissenschaft“ aufarbeiten und anderen Menschen weitergeben oder sogar an ihnen anwenden muss. Und es geht gerade nicht darum, breiten Massen zu empfehlen, Milchprodukte seien ganz toll, weil eine Metaanalyse es gezeigt habe.

Es geht stattdessen, wie immer, um Individualität – und die soll unterstützt werden durch externe Evidenz, also wissenschaftliche Daten. Und wie so oft angemerkt: Hier trennt sich die Spreu vom Weizen.

Hauptsache die Brust ist breit

Etwas muss science based sein, ansonsten hat es keine Gültigkeit. Dabei wissen viele in diesem Internet nicht, was science oder evidence based überhaupt meint – und wissen auch nicht, dass es sich dabei um ein Konzept und keine ultimative und einzige Wahrheit handelt. Bei Wikipedia lassen sich einige Gegenpositionen finden – zum Beispiel folgender Punkt:

6. Kritisiert wird die ideologische Überhöhung.„’Evidenzbasierte Medizin‘, wenn sie richtig verstanden wird, beschreibt also etwas Selbstverständliches, nämlich die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze in Diagnostik und Therapie. Der Begriff wird gegenwärtig nicht so gebraucht, sondern ihm wird eine unbegründete Sonderstellung gegeben.“ (Wichert, 2005, S. 1569).

 „Ideologische Überhöhung“ – Wir arbeiten science based und deshalb haben wir die Weisheit mit Löffeln gefressen, obwohl „die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundsätze“ sowieso gang und gäbe ist. Mal schlechter, mal besser, ohne Frage.

Stattdessen machen wir also etwas Selbstverständliches und kategorisieren je nach Gusto in science based und nicht science based. Ersteres ist der Fall, wenn wir ganz stolz aus dem Ergebnis-Teil von RCTs oder Meta-Analysen zitieren. Dass das nur ein kleiner Bruchteil eines riesigen Felds namens Science ist, wird vielleicht vergessen.

Und degradieren all jenes als nicht science based, das uns zu salopp formuliert ist oder inhaltlich nicht in den Kram passt. Hauptsache, man muss nicht drüber nachdenken und es passt in den eigenen ideologisch verblendeten Horizont. Oder arbeiten science based Leute hier im Internet alle total unparteiisch und ohne confirmation bias? Nö, wenn Milchprodukte konsumiert werden wollen, suchen wir halt die passende Meta-Analyse, die zeigt, dass Milchprodukte super für uns sind – oder schreiben bei Examine ab.

Kann man dieses übertriebene Science-Getue ernst nehmen? Hier im Internet ganz sicher nicht. Vor allem nicht von jenen Leuten, die nicht in der Lage sind, einfache Zusammenhänge ordentlich zu unterscheiden. Differenziertes Denken. Wie soll so jemand Wissenschaft verstehen und science based Ratschläge und Empfehlungen ableiten, wenn es gerade um Differenzierung und Individualität geht?

Ach Leute, jeder ernste Wissenschaftler im Labor, der diese Wichtigtuerei hier im Internet liest, lacht sich doch einen ab.

Referenz: 

Sackett DL, Rosenberg WM, Gray JA, Haynes RB, Richardson WS. Evidence based medicine: what it is and what it isn’t. BMJ 1996;312(7023):71-2.

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

17 comments On Science based: Was es ist und was es nicht ist

  • Ein Traum. Und selbst wieder weiter gelernt. Vielen Dank fur diesen Beitrag, der mir teils aus der Seele spricht.

  • Ihr gründet eure Annahmen darauf, dass die Evolutionstheorie Wahrheit ist. Aber es ist nur eine Theorie. Und eine seeehr wackelige, was aber nie offen gesagt werden würde. Denn was wäre die Konsequenz daraus, dass man zugibt, dass diese Theorie falsch ist?

  • Letztlich geht es darum, was ich in einem konkreten Fall mache, also um eine Entscheidung.
    Z.B. soundsoviel von diesem oder jenem Stoff nehmen. Ein Medikament nehmen. Welchen
    Sport wie lange usw. usf. Ständig muss man Entscheidungen treffen im Leben.

    Wie trifft man Entscheidungen? Grundsätzlich muss man die Optionen bewerten. Das kann man
    statistisch machen, aber auch her Minimax-mäßig (Minimierung des maximalen Schadens).

    Wie bekommt man Bewertungen? Aus Informationen aus der Vergangenheit. Das können
    viele verschiedene sein. Ergebnisse von Tests (Studien), biochemische Erkenntnisse, Messwerte,
    Meinungen von Wissenschaftlern, der Großeltern oder Nachbarn etc. Erfahrungen anderer Menschen
    und eigene. Hat man viele Quellen, muss man diese selbst bewerten. Entweder man vertraut einer
    Quelle und schließt sich dieser an. Oder mehr nach BAYES: so ein bisschen von jedem. Und dann
    kommt man hat zu einem Ergebnis.

    Ich bin mehr der BAYES-Typ als der harte Spieler (alles auf eine Karte).

    Einem Ergebnis großer Studien kann man nur vertrauen, wenn diese zu einem überwältigen
    Ergebnis kommen, was meist nicht der Fall ist. Individuell kann man völlig falsch liegen, wenn
    man eine Studie als alleinige Grundlage nimmt.

  • @ edubily ihr seit die besten! Sorry ist einfach so!
    alles was ihr schreibt ist mit Studien untermauert! und nicht ausgedacht…. oder… wenn man etwas gesunden Menschen verstand hat sogar logisch!

    wenn „wir“ nur Früchte und Blätter gegessen hätten wären wir sicher nicht hier!

    Du hattest hier doch mal das Video gepostet,
    von der Giraffe die Knochen mark schlürft…
    wie kann sie nur.. hat ihr keiner gesagt das tierische Produkte schlecht sind?? ;)

    • Jetzt bist Du aber keine Giraffe, und das Knochenmark, welches die meisten „Kinder“ hier bekommen werden,

      ist von zerimpften, hochgradig verseuchten Schweinen und Rindviechern,
      die leider ihr erbärmliches Leben im stinkenden Stall verbringen müssen!

      Die Relation hinkt hier gewaltig.

  • qcm ??? Quadratzentimeter?
    Als Einheit für die Hirnmasse?

  • Immer wieder cool hier zu lesen.

  • Herzlichen Dank !

    Und wie man da lacht….

    Ich liebe Deine schöne Art und Weise, in verständlicher Sprache
    solche Dinge präzise zusammen fassen zu können !

    Danke für Deine gute Arbeit .

    Herzlichst

    J.

  • Spricht mir in vielen Punkten von der Seele. Danke. „science“, „science based“ und „evidenzbasiert“ streiten sich seit letztem Jahr intensiv um den Titel des Unwort des Jahres im Fitness- und Gesundheitsinternet …

    • Gewinner ist doch eindeutig „bro science“! ;-)

      • Gehört auch mit in die Auswahl.
        Einigen wir uns einfach auf das Wortfeld „Science“ im Anwendungsfeld Fitness- und Ernährung. Damit schlägt man dann fast alle Fliegen mit einer Klappe. Gleicht halt mittlerweile einer Farce

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