… wenn man nicht gerade am Äquator lebt.
Europa back then
Wir erinnern uns: Als die ersten Menschen vor ca. 40-50.000 Jahren nach Europa kamen, war hier gerade eine Eiszeit, die s. g. Weichsel-Kaltzeit, die ihren Höhepunkt, dem letzteiszeitlichen Maximum, so vor 20.000 Jahren erreichte. Europa sah zu dieser Zeit dann so aus:
- Weiß ist der km-dicke Eisschild (Gletscher) über Nordeuropa, der auch Berlin bedeckte.
- Hellbraun ist die Tundra, die s. g. Kältesteppe. Keine Bäume, niedriges Gewächs, Permafrostböden.
- Aufgelockerter wird es in der dunkel- und grünbeigen Zone, Nadelwälder und Präriesteppen.
- Die helleren Grüntöne sind vorwiegend Nadel- und Mischwälder und vereinzelt (sehr südlich) auch mediterranes Gewächs.
- Wer aufgepasst hat: Die Meeresspiegel lagen damals um die 120 m tiefer, weshalb es keine Nordsee gab und die europäischen Landmassen waren auch wesentlich größer
Wer das nur schwer greifen kann: Das Klima, das hier in Zentraleuropa vor 20.000 Jahren geherrscht hat, findet man heute im hohen Nordeuropa, Kanada oder Russland, so ungefähr zwischen dem 60 und 70 Breitengrad.
Unsere Vorfahren – also eiszeitliche Jäger und Sammler – sind natürlich nicht irgendwo in Europa rumgeturnt, sondern haben sich als Folge in Refugien zurückgezogen. Vorwiegend also entlang der Küste in Spanien und Portugal, an den Küsten in Italien, allgemein entlang des Mittelmeeres und in Osteuropa, im Bereich der heutigen Ukraine und Südwestrussland.
Übrigens: Ging man lange Zeit davon aus, dass es sich hierbei um ein einheitliches Jäger-und-Sammler-Volk gehandelt haben muss, die also ähnliche Phänotypen, Kulturen usw. hatten, weiß man dank einer gerade publizierten Studie des Max-Planck-Instituts, dass dem nicht so war:
Überraschenderweise stellte das Forscherteam fest, dass Populationen aus verschiedenen Regionen, die mit der Gravettien-Kultur in Verbindung gebracht werden, die zwischen 32.000 und 24.000 Jahren über den europäischen Kontinent verbreitet war, nicht eng miteinander verwandt waren.
(…) Interaktionen zwischen Menschen aus Mittel- und Osteuropa lassen sich erst wieder ab vor 8.000 Jahren nachweisen. „Zu dieser Zeit begannen Jäger und Sammler mit unterschiedlichen Vorfahren und Erscheinungsbildern, sich miteinander zu vermischen. Sie unterschieden sich in vielen Aspekten, einschließlich ihrer Haut- und Augenfarbe“, sagt He Yu.
Für die unterschiedlichen Populationen, die sich zum Höhepunkt der Eiszeit dann in bewohnbare Refugieren zurückgezogen hatten, gilt jedoch, dass sie Europa im Zuge der Erwärmung und der Zunahme an Bewaldung nordwärts besiedelten, in die s. g. Mammutsteppe.
Vitamin-D-Versorgung im Norden Russlands
Wir haben es also mit Europa zu tun, das eher dem heutigen Norden Russlands ähnelt.
Wer verstehen will, warum eiszeitliche Jäger und Sammler vermutlich erst mal keinen Vitamin-D-Mangel hatten und auch der Selektionsdruck für hellere Haut (mit besserer Vitamin-D-Synthese) sehr viel später aufkam – nämlich im Zuge des Ackerbaus im Neolithikum –, der könnte sich mit indigen lebenden, russichen Menschen befassen.
Berühmte Frage hier im Blog: Woher kriegen die eigentlich ihr Vitamin D? Und diesbezüglich bin ich auf eine sehr spannende Studie gestoßen, die sich genau damit befasst.
Denn da haben wir Wissenschaftler einmal nachgemessen bei einigermaßen indigen lebenden Menschen in Russland – u. a. bei den Nenzen und Komi, die naturgemäß Rentierhirten sind. Der erste Schluss der Studie war:
Unseren Daten zufolge hat der Aufenthalt in hohen Breitengraden an sich keinen negativen Einfluss auf den Vitamin-D-Status einer Bevölkerung.
Unerwartet, nicht wahr? Wer sich ein bisschen auskennt, weiß: Das gilt auch für uns Europäer, wo Skandinavier häufig besser abschneiden als wir Deutschen. Stichwort Lebertran.
Die Studie macht dann eine entscheidende Aussage:
Der Übergang von der nomadischen oder halbnomadischen zur posttraditionellen (in den Dörfern) und modernisierten (in den Städten) Lebensweise führte zu einem Rückgang des Anteils traditioneller Produkte an der Ernährung der indigenen Bevölkerung in der russischen Arktis.
Dies ging auch mit einem Rückgang des Serumspiegels von 25OHD einher. Der Unterschied zwischen den Studiengruppen der Rentierzüchter in der Tundra und der Stadtbevölkerung der Komi und Nenzen ist am aufschlussreichsten.
Genau das, was auch ein Weston Price schon herausgefunden hatte: Lassen Menschen ihre traditionelle Lebensweise hinter sich, beginnen die gesundheitlichen Probleme. Hier in Form eines abfallenden Vitamin-D-Spiegels messbar.
Woher kommt das Vitamin D?
Doch woher bekommen die ihr Vitamin D denn jetzt? Von der Sonne eher nicht.
Die traditionelle Ernährung der arktischen Binnenbevölkerung der Nenzen und Komi, die große Mengen an Wildbret, Rentierfett und Fisch enthält, beugt wirksam einer Hypovitaminose D vor.
Die Forscher klären auf, dass speziell das Rentierfett reich an Vitamin D sei, denn die ernähren sich zu großen Teilen von Cladonia rangiferina, die s. g. Echte Rentierflechte. Und dazu lesen wir in einer relativ aktuellen Veröffentlichung aus 2021/22 folgendes:
Nicht viele Lebensmittel sind eine reichhaltige Quelle (> 4 μg/100 g) von Vitamin D (D steht für D3 und/oder D2), z. B. viele, aber nicht alle Fische (5-25 μg/100 g), Pilze (21,1-58,7 μg/100 g), Rentierflechte (87 μg/100 g) und Fischleberöle (250 μg/100 g).
25 μg entsprechen schon 1000 I. E. Vitamin D – manche Fische liefern pro 100 g also schon rund 1000 I. E. Wildlachs wäre so ein gutes Beispiel. Auffällig sind auch Pilze, die ebenfalls signifikant zur Vitamin-D-Versorgung in der Wildbahn beitragen könnten.
Aber besonders hervorzuheben ist Rentierflechte – also ein Grundnahrungsmittel von Rentieren –, die ungefähr 3500 I. E. pro 100 g enthält. Und Fischleberöle, die unglaubliche 10.000 I. E. pro 100 g liefern.
Die Autoren finden daher, dass natürlich speziell jene Gruppe, die marinen Fisch in der Ernährung enthält, besonders gut mit Vitamin D versorgt sei. Die anderen Gruppen schaffen es immerhin, im Schnitt relativ normale Vitamin-D-Spiegel zu wahren.
Wohlgemerkt: Man kann davon ausgehen, dass indigene Völker, die schon Tausende Jahre dort oben in Russland leben, eine gewisse genetische Anpassungen mitbringen, um auch mit relativ niedriger Vitamin-D-Zufuhr noch gut versorgt zu sein. Mehr dazu im vorigen Artikel von uns.
Das Fazit
Und so schließt sich der Kreis:
In Russland haben innerhalb einer autochthonen nördlichen Volksgruppe diejenigen, die einen nahezu traditionellen Lebensstil pflegen, im Allgemeinen einen höheren Vitamin-D-Status als die sesshaften Dorf- und Stadtbewohner.
Weston Price würde nun einmal mehr lächeln.
Indigene sind nicht dumm. Die wissen dank Überlieferung und kurzen „Wissenswegen“ sehr genau, was sie essen müssen, um gesund zu bleiben. Man kann also davon ausgehen, dass dies auch für unsere Vorfahren galt – jedenfalls bis zum Ackerbau (Neolithikum).
Denn bis dahin waren die meisten Jäger und Sammler, die Europa besiedelten, noch dunkelhäutig. Etwa so wie die o. g. Nenzen oder die Inuit. Die rasche Verbreitung der hellen Haut ab circa 8000 BCE, die die Vitamin-D-Synthese aufwertet, lässt darauf schließen, der Selektionsdruck im Neolithikum enorm wurde und die Nahrung nicht mehr ausreichte, um die Vitamin-D-Versorgung sicherzustellen.
Denn der Mensch hat via Sesshaftwerdung und Domestizierung von Tieren einen natürlichen Kreislauf durchbrochen, der z. B. dazu geführt hat, dass Tierprodukte vermutlich eben nicht mehr so reich an Vitamin D waren. Außerdem sank der Konsum von Tierprodukten zumindest zu Beginn des Neolithikums enorm.
Folgen sind bekannt.
Wir können also festhalten, dass zumindest unsere spätsteinzeitlichen Vorfahren – von denen wir aber ohnehin nur einen kleinen Teil in uns tragen –, sogar besser mit Vitamin D versorgt gewesen sein könnten als moderne Menschen bei uns im Winter. Die brauchen offenbar kein Vitamin D ;-)
1 comments On Wie kommt man in der Wildbahn an Vitamin D? (Studie)
Wieder einmal hervorragend recherchiert. Dankeschön.
Ist es möglich, dass sich der Vitamin D Bedarf je nach Breitengrad epigenetisch selbst reguliert?