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Fantasiegebilde Ernährungswissenschaften

Schon mal aufgefallen?

Das Gehirn will die Story, gefälligst!

Das Gehirn will immer Geschichten. Am liebsten eine, die stimmig, kohärent ist. Das Gehirn hasst kognitive Dissonanz und liebt Fantasie. Das ist eine explosive Mischung – auf diese Weise funktionieren viele Horror- und Psychothriller-Filme.

Denn jeder weiß: Wenn die Stimmung gut ist, das, was wir sehen aber lückenhaft, dichtet das Gehirn einfach fehlende Teile dazu. Wir merken nicht mal, dass uns das Gehirn verkackeiert. Aber wir hängen so drin, dass es nachhallt. Zum Glück wissen wir, dass es ein Film ist. Jetzt stell dir mal vor, wie das im Mittelalter gewesen sein muss. Ohne „Wissenschaft“. Ohne gut erfasste Objektivität. Klar: Dann war natürlich das, was die beste Story lieferte, auch das, was „wahr“ war.

Heutzutage sind wir gar nicht so weit vom Mittelalter weg, wie manche glauben. Jeder lernt im Wissenschaftsstudium, dass es auch bei Studien immer um die Story geht. „Welche Story willst du damit erzählen?“ – Wer also glaubt, Wissenschaft sei immer unvoreingenommen, ist noch ein bisschen grün hinter den Ohren.

Verschlimmert wird das zusätzlich dadurch, dass diese wissenschaftlichen Ergebnisse nachfolgend von irgendwelchen Leuten, z. B. Influencern, genommen werden, um eine größere Story zu erzählen. Da wir es mit ein paar Informationsfetzen und nicht mit dem wahren Leben zu tun haben, kann man aus der Datenlage quasi wirklich jede Geschichte zusammendichten.

Ernährungswissenschaften ist keine Wissenschaft

Besonders tragisch ist in diesem Zusammenhang, dass die Ernährungswissenschaft eigentlich keine Wissenschaft ist. Es ist ja nicht so wie in der Physik, dass man quasi alles haargenau bestimmen, messen und mathematisch berechnen kann. Die Ernährungswissenschaft hat es mit einem hochkomplexen biologischen System namens Körper zu tun, das bis heute weder richtig erforscht, noch richtig beschrieben und erst recht nicht mathematisch genau modelliert ist.

Man muss nur mal das Wort Gen-Polymorphismen in den Raum werfen, dann wird klar: Ernährungswissenschaften liefern Ergebnisse, die allerallerhöchstens immer nur für jene Personengruppe gilt, die man untersucht. Da man aber sowieso immer nur ein Sandkorn einer Wüste untersucht, kann das Extrapolieren gar nicht klappen. Erst recht nicht, wenn man Heterogenität standardisieren möchte.

Hinzu kommt, dass keine andere „Wissenschaft“ so befangen ist wie die Ernährungswissenschaft. Wenn der Studienleiter ein Veganer ist, wird die Studie eher nicht sagen, dass Fleisch gesund ist. Liebt der Studienleiter seine Keto-Diät, wird natürlich eher rauskommen, dass Zucker ganz böse ist. Und leider ist es eben so, dass jeder Mensch essen muss und Ernährung für jeden Mensch ein Thema ist.

Deshalb kann die Ernährungswissenschaft ganz oft die wissenschaftlichen Grundkriterien nicht einhalten:

  • Viele Arbeiten halten der Überprüfung nicht stand, weil allgemeingültige Aussagen nur selten abgeleitet werden können. Entsprechend kann man sie weder verifizieren noch falsifizieren.
  • Viele Arbeiten sind weder offen, noch redlich, sondern verfolgen eine klare Agenda.
  • Auch die geforderte Verlässlichkeit der Ergebnisse ist oft nicht gegeben, weil vieles, von dem was da geschrieben steht, noch nie Gültigkeit hatte.
  • Viele Arbeiten sind auch nicht objektiv. Denn besonders in den Ernährungswissenschaften wird sehr auf Basis von Korrelationen argumentiert.
  • Selten sind die Arbeiten eindeutig und klar in ihrer Aussage. Wenn Ratten mit Fruktose vergiftet werden, dann muss man klar kommunizieren, dass genau das gemacht wurde. Entsprechend muss in der zitierenden Arbeit stehen, dass genau das gemacht wurde. Viel zu oft verwässern solche wichtigen Details.

Daher ist Ernährungswissenschaft ganz oft gutes Storytelling, deren Ergebnisse mit der Praxis und dem realen Leben überhaupt nichts zu tun haben. Es liefert zu viele Fantasiegebilde.

Wir brauchen eine gute Story

Ein Wissenschaftler hat viel Spielraum für seine Story. Und einem guten Wissenschaftler gelingt, die Story so gut aufzustellen und so gut zu verkaufen, dass sie ein klares, handfestes, und breites Statement ist. Wenn die Leute im Internet heutzutage also mit ihren Studien um sich werfen, muss ich schmunzeln und sage oft genug:

Hast du eigentlich auch ein eigenes Gehirn? 

Oder:

Hinterfragst du auch mal was? 

Oder:

Wer’s glaubt… ;-) 

Jeder kann heute Studien zu seinem Lieblingsthema und zu seiner Glaubenswelt aus dem Ärmel schütteln. Die meisten haben die eigenen Studien zwar nicht gelesen, geschweige denn verstanden, aber mit Studien zu argumentierten ist heute in. Für mich zeigt das den allgemeinen Trend der Retardierung: Leute können kompetent wirken, sind gut darin, Dinge zu kopieren, aber die wirklichen Skills, um ein tiefes Verständnis für eine Thematik zu entwickeln, fehlen komplett.

Wir sind unbegabte Technokraten geworden

Entsprechend fällt dann auch die Beweisführung mau aus. Eine gute Beweisführung muss mehrere Argumentationsebenen abdecken. Und sie darf nicht aufhören zu fragen.

Im Bereich der Ernährung gibt es eine riesige Kluft zwischen Theorie und Praxis, weil wir versuchen, mit Ernährungswissenschaften die Lebenswirklichkeit nicht nur zu beschreiben, sondern gar zu gestalten.

Viele möchten nicht verstehen, dass Wissenschaft, aber gerade die Ernährungswissenschaft, heutzutage (!) Lebenswirklichkeiten beschneidet. Wenn wir „der Wissenschaft“ glauben und unser Leben danach gestalten, ist unser Leben immer ein Spiegel der Möglichkeiten, die diese Wissenschaft aktuell preisgibt.

Der Grund dafür ist, dass wir seit ein paar Jahrzehnten zu beschreiben versuchen, was Millionen von Jahren Entwicklung hinter sich hat, was aus Abermillionen Einzelteilen besteht, und was so unfassbar komplex ist, dass es nichts weiter als eine Vermessenheit ist, anzunehmen, wissenschaftliche Daten könnten uns Entscheidungen abnehmen.

Aus diesem Grund neigen wir Menschen dazu, Dinge kaputtzumachen. Wir reduzieren sie auf das, was wir glauben zu kennen. Fällen auf dieser Grundlage Entscheidungen und wundern uns, wenn wir Fehler machen. Im Alltag heißt das dann, dass wir durch Ernährungsform X krank werden, obwohl „die Datenlage“ doch so viel Tolles prophezeit.

Fakt ist: Die Meisten sind in ihrer Glaubenswelt gefangen und merken es nicht mal. 

Das Gebet

Früher beschrieb und erforschte Wissenschaft die Lebenswirklichkeit.

Heute soll Wissenschaft Lebenswirklichkeit schaffen. Es gibt schon heute viel zu viele Technokraten.

Sie beschneiden und reduzieren Lebenswirklichkeit auf Grundlage „aktueller Forschungsergebnisse“.

Der Witz ist, dass das weder was mit Wissenschaft im eigentlichen Sinne zu tun hat, noch etwas mit modernen Ansätzen wie Evidence-based nach Sackett.

Die Leute penetrieren die Pubmed-Suchmaschine statt ein tiefes Gefühl und Verständnis für beispielsweise Biologie zu kultivieren.

Sie glauben, sie würden Wissenschaft machen, und Wissenschaft leben. In Wahrheit sind sie Gläubige, die „die Wissenschaft“ als Religion missbrauchen.

Und genau genommen ist das Mittelalter.

Amen ;-)

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

5 comments On Fantasiegebilde Ernährungswissenschaften

  • 👏🏼👏🏼👏🏼 Danke, tut gut und bitte weiter so

  • Natürlich haben wir alle unseren Bias, auch Wissenschaftler, aber wenn man das weiß, ist man schon mal nen ganzen Schritt weiter.

    Es gibt auch positive Beispiele, wer des Englischen mächtig ist, dem kann ich zum Beispiel das ältere Video „The Battle of the Diets: Is Anyone Winning (At Losing?)“ empfehlen, das ist eine Präsentation von Professor Christopher Gardner der Universität Stanford. Gardner ist seit 20 Jahren Vegetarier , und er investiert am Anfang 5 Minuten um zu erklären, wie wenig Bock er hatte, sich mit irgendwelchen „Mode-Diäten“ herumzuärgern. Er machts dann aber trotzdem :-)

    Spoiler: die Studie vergleicht die Effektivität des Gewichtsverlustes verschiedener Diäten, wobei vor allem die Verteilung der Makronährstoffe unterschieden wird, das Spektrum reicht von sehr sehr viel Kohlehydraten (Ornish-Diät) bis runter zu sehr wenigen (Atkins).

  • Haha, was hab ich gelacht. :D Mein Satz beim Facebook-Teilen dazu, noch bevor ich hier auch nur annähernd zuende gelesen hatte: „Unsere tägliche Dosis edubily gib uns heute – und vergib uns unsere Dogmen …“ – und dann lese ich hier a) am Ende „Das Gebet“ und b) als einzigen Kommentar „Amen“. Hach, ist das toll hier in der Filterblase. ;-)

  • Wunderbar. Hervorragend beschrieben. Ich bin begeistert. Und es ist alles andere als einfach, sich nicht von den Geschichten einlullen zu lassen. Es ist mühsam seiner eigene Einschätzung wieder mehr zu vertrauen. Das gilt nicht nur für den Ernährungsbereich. Danke für den Artikel.

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