Immer wieder gibt es in der Wissenschaft teils sich offenbar gegenüberstehende Strömungen, die beide für sich beanspruchen, „evidenzbasiert“ zu sein. Auch im Bereich Gesundheit lässt sich so eine Tendenz beobachten, wobei zwei teils völlig verschiedene Ansätze irgendwie erfolgreich sein können.
Woher kommt das? Das ist heute Thema des Artikels.
Denn auch wenn insbesondere Laien oft glauben, wissenschaftliche Studien oder Erkentnisse würden sich widersprechen, gibt es meist ein klares Muster und ein gut erkennbarer Kontext, in den man wissenschaftliche Erkenntnisse bzw. Einzelereignisse setzen muss, damit sie Sinn ergeben.
Also los.
„Man braucht zwei gegensätzliche Faktoren“
Im Grunde geht es im Körper um genau zwei Zustände.
- Anabolismus (Aufbau)
- Katabolismus (Abbau)
Wenn man das mal verstanden hat, ist man sehr viel weiter. Im Körper bzw. in den Körperzellen, das hat schon der berühmte Biochemiker und Vitamin-C-Entdecker Albert Szent-Györgyi erklärt, gibt es immer zwei Zustände.
Um etwas zu regeln, braucht man immer zwei gegensätzliche Faktoren. Man kann nicht durch einen einzigen Faktor regeln. Um ein Beispiel zu nennen: Der Verkehr auf den Straßen kann nicht allein durch eine grüne oder rote Ampel geregelt werden.
Heißt, eine Vielzahl biochemischer Abläufe im Körper wird durch zwei Pole reguliert, die unterschiedlich stark aktiviert sein können und die im Netzwerk einer Vielzahl solcher binärer Schalter einen unfassbar komplexen Organismus steuern.
Wenn es um Anabolismus und Katabolismus und um unseren (Energie-)Stoffwechsel geht, gibt es entsprechend zwei Schalter in den Zellen, das sind …
- mTOR (Anabolismus)
- und AMPK (Katabolismus)
Kernthema seit 10 Jahren, auch in unseren Büchern. Viele werden’s kennen.
Insulin reguliert zwei Zustände
Das sind die beiden zentralen Schalter, die quasi im Alleingang unseren kompletten Energiestoffwechsel regulieren und Inputs von Außen integrieren. Ein maßgeblicher „Vermittler“ solcher Effekte ist Insulin.
- Ein hohes Insulin macht mTOR scharf.
- Ein niedriges Insulin macht AMPK scharf.
Drum findet man bei hohem Insulin ein aktives mTOR (Anabolismus) und bei niedrigem das Gegenteil, ein stillgelegtes mTOR und ein aktives AMPK. Das ist erst mal ganz simpel.
Jetzt müssen wir noch eine weitere Sache verstehen:
- Insulin geht hoch bei hoher Energiedichte (der Nahrung), bei viel Eiweiß, bei vielen Kohlenhydraten, und selbst Fettsäuren können die Insulinsekretion triggern.
Anabolismus auf dieser Ebene ist also Resultat von … einer großen Mahlzeit. Macht Sinn. Aufbau und Regeneration gibt’s dann, wenn wir genug Essen haben.
- Insulin geht runter, wenn wenig ins System kommt und wir Energie verbrauchen.
Macht auch Sinn. Der Körper fährt via AMPK zelluläre Signalwege hoch, die den Abbau forcieren, z. B. vom Fettgewebe, vom Kohlenhydratspeichern, von Körperprotein usw.
Es gibt also einen relativ strikt gehaltenen Dualismus, der Jahrmillionen funktioniert hat. Bis heute. Und diesen Dualismus kann man immer ein bisschen beeinflussen, sodass wir einen Pol etwas stärker stimulieren bzw. ansprechen.
Gesundheit ist kraftvoll
Bei Gesunden kann die Insulinausschüttung atmen. Sie kann, wenn nix gegessen wird, sehr stark verflachen, sodass fast gar nix mehr gemessen wird. Und sie kann, weil sie über eine große Reserve verfügt, extrem stark ansteigen, wenn man z. B. eine große Mahlzeit isst (wie in der Abbildung).
Bei Gesunden ist das also extrem pulsatil, wie eine Pumpe, die pro Zyklus einmal vollständig be- und entladen werden kann.
Das ist gesund. So ähnlich stellen wir uns unseren Lebensmotor, unser Herz, vor, richtig? Aus gesundheitlicher Sicht passiert bei unterschiedlichen Insulin- und damit mTOR- und AMPK-Levels folgendes:
Ein Kraftsportler würde sagen: Wir brauchen eine hohe mTOR-Aktivität. Nur das garantiert funktionale, kräftige Muskeln. Zeitgleich macht genau diese mTOR-Aktivität auch ein kräftiges Herz, es hemmt Entzündung (auch in den Gefäßen), es macht Knochen stabil, genau wie den ganzen Bewegungsapparat (Osteoporose, Sarkopenie!) und erzeugt schöne Hormonwerte, z. B. Testosteron.
Dr. Greger, Dr. Longo und viele, die eher in Richtung pflanzenbasierte Ernährung unterwegs sind, aber auch solche, die Kalorienrestriktion oder Fasten als Lifestyle-Intervention promoten, würden eher das Gegenteil wollen, ein aktives AMPK, das mit langem Leben und niedriger Krankheitslast assoziiert ist.
Aha!
- Die einen würden also die Wirkung von Insulin nie aufgeben,
- während die anderen eher sagen würden, „so wenig wie möglich“.
Und genau diese Lebenseinstellung hat starke Folgen, vor allem wie manche Menschen Wissenschaft sehen und welche Handlungs- und medizinische Empfehlungen ausgegeben werden.
Was fehlt hier? Bevor du weiterliest, kannst du ja mal ein paar Sekunden drüber nachdenken.
Der entgleiste Energiestoffwechsel
Um das zu verstehen, schauen wir uns zunächst einmal an, was passiert, wenn das o. g. System entgleist.
Eine dysfunktionale bzw. krankes Muster der Insulinausschüttung zeichnet sich durch ein chronisch erhöhtes Insulin aus, das dann, vor allem in späteren Verläufen, kaum noch nach oben „skalierbar“ ist, auch dann, wenn der Stimulus, also z. B. eine große Mahlzeit, gegeben ist.
Diese „Insulin-Pumpe“ ist also ein Pümpchen, die aus dem letzten Loch „pfeift“.
Wie eine Schnappatmung.
Und hier gibt es weder funktionale Muskeln noch Langlebigkeit, „hier gibt es nur Krankheit“. Zivilisationserkrankungen, wie Herzkreislauferkrankungen, Krebs, Neurodegeneration usw., gibt es hauptsächlich genau deshalb: ein entgleistes Insulin und damit entgleiste Signalwege, vornehmlich über AMPK und mTOR.
Und so kommt es, dass – je nach Glaubensrichtung – zwei verschiedene Ansätze angepeilt werden, die sich offenbar gegenüberstehen.
Mit Blick auf Studienergebnisse würde das folgenermaßen aussehen:
- Die eine Studie findet, dass Aminosäuren und Eiweiß (mTOR = Anabolismus) förderlich sind.
- Die andere Studie findet, dass das Gegenteil – Aminosäurenrestriktion, Methioninmangel, weniger tierisches Eiweiß (Veganismus!) –, also vermehrter Katabolismus förderlich ist.
Und Menschen, die nicht ganz so tief drin sind, würden wieder einmal fragend aus der Wäsche gucken und von „sich widersprechenden Studienergebnissen“ sprechen. Dabei widersprechen die sich ja gar nicht.
Yin und Yang: Du musst Muster sehen
Und genau das führt uns zum Kernproblem. Viele Menschen schielen immer wieder auf einzelne Ereignisse statt das ganze Muster zu erkennen. Es reicht einfach nicht, sich auf mTOR oder AMPK, sprich auf hohe oder niedrige Aktivität des Insulin-Signalwegs zu fokussieren.
Man muss es als ein System verstehen, das aus einem Yin und Yang zusammengesetzt ist und das nur ordentlich funktioniert, wenn beides harmonieren kann, wenn also Zyklen ordentlich durchlaufen werden können.
Bedeutet: Wo es niedriges Insulin gibt, muss es auch ein phasenweise hohes Insulin geben. Und wo es viel Insulin gibt, muss es zwangsläufig auch ein niedriges Insulin geben.
- Nach dem intensiven Sport (wenig Insulin, hohes AMPK), braucht es ordentliche mTOR-Aktivität, um zu wachsen und regenerieren (viel Insulin, hohes mTOR).
- Nach dem Fasten (viel AMPK), braucht es genug Essen (viel mTOR).
Genau deshalb stellte schon Longo in seinen Arbeiten fest, dass Fasten bzw. eine fastenmimende Ernährung (FMD) dann heilsam – hier auf ein Mausmodell der Multiple Sklerose (EAE) – wirkt, wenn nicht nur gefastet, sondern auch gegessen wird.
Da es der Wechsel von Fasten-Zyklen und erneuter Fütterung und nicht die FMD alleine ist, die sowohl die Regeneration als auch den Ersatz von Autoimmunzellen durch naive Zellen fördert, ist die chronische Kalorienrestriktion bei der Behandlung von EAE/MS möglicherweise nicht oder nicht genauso wirksam.
Denn das bedeutet, dass den Zellen zunächst die Insulinwirkung entzogen wird, folge: hohe AMPK-Aktivität, was dann Signalwege aktiviert, die ihre Potenz nur vollständig aktivieren können, wenn danach eine robuste mTOR- sprich Insulin-Wirkung folgt.
Ach so! Genau deshalb sind Gesunde … eben stoffwechselgesund. Und metabolisch Kranke werden immer kränker. Entgleistung.
Leptin: Kann man mTOR spüren?
Und genau diese potenten Signalwege werden mit anderen Signalwegen gekoppelt, die wir z. B. in Form von Hunger erleben. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Leptin, auch als Satt- oder umgekehrt Hungerhormon bekannt.
Kennt jeder, der mal diätet hat. Irgendwann lässt sich der Hunger nicht mehr durch Eiweiß und Salat unterdrücken. Wir merken: Das, was wir brauchen, ist Energie – eine große Mahlzeit, in der Sprache des Körpers: mehr Insulinwirkung.
Biochemisch passiert hier folgendes: Wir haben möglicherweise tage- oder sogar wochenlang diätet, wir senken die mTOR-Aktivität des Körpers, was erst mal gesund ist, überziehen dann aber so deutlich, dass die mTOR-Aktivität einen kritischen Wert unterschreitet, der quasi „real-time“ von weiteren Signalwegen „getrackt“ wird, wie wir das heutzutage ausdrücken würden.
Und das passiert via Leptin. Dieses sinkt in der Diät immer stärker ab, denn es wird durch mTOR reguliert. Irgendwann kommt so wenig Leptin im Hirn an, dass Neurone uns förmlich zwingen zu essen.
Und so schließt sich der ganze Feedback-Loop nämlich: Wir essen, Energie kommt rein, Insulin steigt analog an, die mTOR-Aktivität nimmt zu, Leptin steigt an und wir erleben eine robuste appetitunterdrückende Wirkung als Folge. Tatsächlich verstärkt Leptin nun sogar die mTOR-Wirkung. Ein klassisches Feedforward.
Leptin ist vermutlich eher eine Art Langzeit-Tracker des Energiestatus des Körpers, während Insulin an sich via mTOR den Hunger unterdrückt. Übrigens geht das (zunächst) auch über Eiweiß, das auch alleine mTOR im Gehirn aktiviert und so appetitunterdrückend wirkt.
Was folgern wir?
Zunächst einmal müssen wir immer klar definieren, von welchem Zustand wir sprechen, wenn wir argumentieren.
- Sprechen wir von einem entgleisten Energiestoffwechsel?
- Oder sprechen wir von Gesunden?
Dann müssen wir uns fragen, ob wir einzelne Ereignisse (Insulin hoch vs. Insulin niedrig) fokussieren, oder ob wir Muster abstrahieren.
Denn während im ersteren Falle separiert wird, zeigt der letztere Fall häufig, dass wir nicht von Yin oder Yang sprechen, sprich von zusammenhanglosen Einzelereignissen, sondern davon, dass Yin ohne Yang und umgekehrt … gar nicht funktioniert!
Und genau deshalb wird ein verbesserter Fettstoffwechsel, z. B. durch Gewichtsabnahme, das heißt, vermehrte AMPK-Aktivität, auch den Anabolismus fördern. Das hat dann in der Wissenschaft so fancy Namen wie „metabolische Flexibilität“ oder „Insulinsensitivität“.
Es geht also darum, ein gesundes Muster (wieder-)herzustellen.
Nur so können wir eine ganze Palette an Vorteilen für uns mitnehmen. Das heißt auch: Wann immer ich über förderliche Effekte durch „Fasten“ spreche, spreche ich zeitgleich indirekt über einen Kontext. Denn natürlich macht Fasten oder tempoäre Kalorienrestriktion, wie wir das nennnen, keinen Sinn, wenn der Körper bereits im Energiemangel ist.
Eine temporäre Kalorienrestriktion, das heißt ein hohes AMPK, weil niedriges Insulin, macht jedoch Sinn im Kontext einer chronischen Energieüberfachtung bei überaktivem mTOR – also z. B. beim typisch-westlichen Wohlstandsbürger.
Und genau das verstehen gefühlt 95 % der Menschen nicht.
- Alles ist kontextabhängig.
- Wir müssen über Muster sprechen, um das ganze Bild zu verstehen.
Und wer das nicht macht … ist eben ein Cherrypicker. Jemand, der Daten nach seiner eigenen Fantasie auswählt. Ok?
Unsere Filter in den Debatten
Heutige Debatten werden genau deshalb immer stupider, weil schon alleine Plattformen, auf denen debattiert wird, nur 280 Zeichen zulassen (Twitter). Wie reich oder besser arm an Gehalt soll eine Debatte denn dann sein? Nur zum Vergleich: Dieses einfach gehaltene Beispiel hier hat ja schon über 10.000 Zeichen.
Um Vera Birkenbihls Ausführungen zu bemühen: Wie wollen wir denn etwas über den Filter der anderen Menschen erfahren, sprich über ihren Argumentationskontext und ihr Weltbild, wenn wir so miteinander kommunizieren?
Twitter forciert nicht nur, dass wir immer weniger über die Filter anderer Menschen wissen, sondern erzeugt paradoxerweise auch noch Filterblasen, in denen Filter anderer Menschen gar nicht mehr existieren.
Und genau deshalb können wir als Gesellschaft kaum noch konstruktiv miteinander umgehen. Drum: Twitter sagt mehr über den Zustand der Gesellschaft aus als den meisten lieb ist. Und der ist – jedenfalls mit Blick auf Argumente austauschen – schlecht.