Theorie vs. Praxis

 

Unbestritten ist die Tatsache, dass es die Gattung Homo – > 2 Millionen Jahre alt – nur deshalb gibt, weil irgendein Vertreter vor uns auf die Idee gekommen ist, sich tierische Produkte, Fleisch und hochwertige Tierfette einzuverleiben. Es gibt sogar Funde, 3 Millionen Jahre alt, die zeigen, dass Knochen gebrochen und das Mark ausgeschabt wurde. Wohlgemerkt: Lange, bevor es die Art Homo sapiens überhaupt gab.

Das Problem unserer Gesellschaft heute ist, dass wir meinen, wir könnten alles verändern, uns über alles hinwegsetzen. Tief verwurzelte Wahrheiten gibt es laut dieser dem Hochmut verfallenen Haltung nicht. Alles soll relativ sein.

Speziell Evolutionsbiologen würden über so eine Einstellung laut lachen. Wohlgemerkt: Nicht alle Biologen argumentieren „biologisch“, im Gegenteil. Mir fällt da auf Anhieb ein Botaniker ein, der bei den Grünen in der erste Reihe sitzt. Botaniker.

Solche wirren Haltungen gibt es meistens, wenn man ganz toller Theoretiker ist, aber von der Praxis keine Ahnung hat. Oder, anders ausgedrückt: wenn ein Botaniker meint, er könne im TV über Evolutionsbiologie referieren.

Als ich vor über 10 Jahren damit angefangen habe, mich mit Ernährung zu befassen, war „Fleisch“ in meinem Kopf böse. Ich hatte damals schon genug „Beweise“ gesammelt, um das zu wissen. Dabei war immer ich der Kranke. Während sich der Mops mit BMI 34 grinsend sein Wiener Schnitzel reinzog, dachte ich mir nur: Warte du mal ab, mein Lieber.

Aber dem ging’s bestens. Mir nicht. Ich hatte gefühlt jeden Mangel. Während ich mich also jeden Abend um 20 Uhr schlafen legen musste, verbrachte der Typ die Nächte nicht selten bis frühmorgens in irgendeiner Dorfdiskothek.

Was das ist? Der vermeintlich Schlaue, „weiß alles“, stellt sich über den vermeintlichen Dummen, der nix weiß. Theorie gegen Praxis. Akademischer Hochmut gegen gesunden Menschenverstand, 20 Jahre altes Leben gegen > 2 Millionen Jahre Evolution.

Übrigens: das funktioniert auch „andersrum“ – oft genug werden beispielsweise Hochdosen irgendwelcher Ergänzungsmittel empfohlen. Bis man nach jahrelangem Abusus versteht, dass auch das eine evolutive Wahrheit ist. 100 mg Zink pro Tag funktioniert halt leider auch nicht nebenwirkungsfrei. Schade, nicht wahr?

Das liegt auch daran, dass wir so ein Bild haben von „Gesundheit“. Dem Bild wurde ich bei damals BMI 21 und kaum Körperfett bestens gerecht. Ich hatte sicher keinerlei „Risikofaktoren“. Mein Freund oben, mit BMI 34, sicher eine Hand voll. Aber was bringt augenscheinliche „Gesundheit“, wenn in mir kein Leben steckt? Wenn man sich im besten Alter abends um 20 Uhr erst mal schlafen legen muss.

Der hatte was, was ich nicht hatte: eine funktionierende reproduktive Achse. Also Schilddrüsenhormone, Testosteron und Co. – der hatte ein Lebensgefühl. Der konnte und ich wollte.

Bis heute bin ich ziemlich neugierig. Menschen in meinem näheren Umfeld belächeln das oft genug. „Oh, machste wieder deine Reiswaffel-Diät?“, „Ach, trinkste mal wieder keinen Kaffee?“, „Ich dachte, du willst Lebensmittel XY nicht mehr essen?!“ – ja, das stimmt. Kann man belächeln, finde ich ja selber lustig.

Der Punkt ist nur, dass ich heute mit ziemlicher Sicherheit sagen kann, was mir gut tut, was mein Körper braucht, was ich tun muss, um ein Lebensgefühl zu haben. 

Und entsprechend sollte so ein „Experiment“ mehrfach und in einem unterschiedlichen Kontext durchgeführt werden, denn nur so kann man aussagekräftige Resultate erhalten. Aus diesem Grund habe ich bis heute sicher zehnmal (oder noch öfter) probiert, über einen längeren Zeitraum vegan oder vegetarisch zu leben. Ich geb’s auf, weil es unter keinen Umständen je funktioniert hat. Das schließt allerdings nicht aus, dass ich trotzdem ab und zu mal ein paar fleischfreie Tage einbaue.

Kein „Experte“ kann uns „vorschreiben“, was wir brauchen, um uns gut zu fühlen. Und oft genug zeigt sich, dass „Gesundheit“ in Wahrheit ein bisschen anders ist als das, was wir gemeinhin darunter verstehen – was kein Freifahrtschein dafür sein soll, sich gehen zu lassen und mit sämtlichen Risikofaktoren beim Arzt vorstellig zu werden.

Wenn wir über die eventuell krankmachende und im Fleisch vorkommende Sialinsäure Neu5Gc schreiben, versuchen wir das Thema natürlich so realistisch wie möglich zu behandeln. Was ist die tatsächliche Effektgröße? Heißt: macht es Sinn, dass im Fleisch eine Substanz enthalten ist, die uns umbringt, wenn Fleisch die Triebfeder dafür war, dass es uns Menschen überhaupt gibt?

Und: Wie ist der Trade-off? Im Fleisch kommt nun mal nicht nur Neu5Gc vor, sondern eine unglaubliche Fülle an bioaktiven und essentiellen Substanzen. Der Schutzfaktor und die Effekte, die von diesen Substanzen ausgehen, können möglicherweise weitaus stärker sein als die schädliche Wirkung, die von Substanzen wie Neu5Gc ausgehen.

Theorie vs. Praxis. Man sollte immer ein bisschen vorsichtig sein. In beide Richtungen.

Also, gebt dem kleinen, offensichtlich ziemlich aufgeweckten Mops seinen Bacon zurück. Denn:

Bacon is good for me.

(Aber ins Football könnte der Kleine schon auch gehen, bisschen Sport machen.)

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Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

12 comments On Theorie vs. Praxis

  • Einen Weg kann man eigentlich nur finden, wenn man weiß wo man hin will. Ich weiß,
    „der Weg ist das Ziel“. Dann muss man halt sehen, wie man sich auf dem ziellosen Weg
    wohl fühlt. Meine ich ganz im Ernst.

    Ziele können z.B. sein:
    – die Überwindung von Krankheiten, Schmerzen, Erschöpfung etc.
    – „Nackt gut aussehen“ nach Maslow
    – Muskeln bis zum geht nicht mehr
    – Anti/Reverse-Aging uvm.
    – Gourmet-Lifestyle

    Um das zu erreichen, stehen viele Optionen zur Verfügung:
    Makro- und Mikronährstoffe, also Essverhalten; körperliche Aktivität (Kraftsport, Ausdauersport), Schlaf/Wachrhythmus,
    Vermeidung von negativen Einflüssen, Psycologische und gesellschaftliche Faktoren. Es geht darum, einen
    „lifestyle“ zu entwickeln, der guttut und in Richtung Ziel führt. Eine gewisse Erfolgskontrolle ist einfach nötig, aber überhaupt
    kein Problem. Bloß nichts ideologisieren. Schon garnicht Ernährung.

    Ich denke nicht darüber nach, ob ein bissel Übergewicht „nicht schlimm“ ist. Es passt nicht zu meinem Ziel. Andere
    mögen es schick finden. Und keine ruckartigen Bewegungen, weder bei der Ernährung noch beim Sport. Immer
    schön auf dem Pfad der „Hormese“ bleiben. Bei der Ernährung rate ich von vorgefertigten Diäten ab. Es ist mir egal,
    ob das jetzt Paläo, Vegan, Pegan oder sonst wie heißt. ich wähle meine Lebensmittel genau aus – auch den Hersteller – und
    esse die eben. Gilt auch für Aminosäuren und sog. NEMs.

    Und dann gibt es ja auch noch den Anti-Aging. Irgendwann. Das muss man auch berücksichtigen. Darüber könnte man
    auch mal schreiben. Ob es da gut ist, den Stoffwechsel allzu hoch zu fahren?

    Übrigens bin ich mit geringerem KH-Anteil sehr gut gefahren, fühlte mich jünger und 20 kg leichter. Man sollte es aber mit
    Kraftsport kombinieren.

  • Hallo Chris,
    habe gerade Bücher und Blog von Matt Stone gelesen.Vielleicht bekannt bei Euch, über Paleo Mythen und Diät Geschädigte, auch sehr interessante Erfahrungsberichte, bzw. Leidensgeschichten von Leuten, die auf Paleo, Low Carb oder was auch immer waren. Die sind davon richtig krank geworden. Es war ein weiterer Augenöffner, wobei ich die von ihm empfohlene Praxis des Überessens zur Ankurbelung des eingeschlafenen Stoffwechsels und Wiederherstellung der Hormone nicht unbedingt nachahmen wollte, mir zu extrem. Mich würde interessieren, wie Du es, Chris, geschafft hast, aus Deinem Loch herauszukrabbeln, sicher doch nicht mit Überessen!

    Sollten wir unseren Instinkten nicht mehr vertrauen, als dem Kopf und was er sich da immer als gesundes Essen zusammenreimt?Wie haben wir wohl sonst als Art überlebt?Wenn der Körper sagt, ich will Fleisch, dann gib es ihm, verlangt er nach Kohlenhydraten, nur zu, er braucht sie. Jahrelang dachte ich, oh ich ernähre mich ja so gesund, schränkte mich ein, ließ ganze Nahrungsmittelgruppen weg, verlor Gewicht, ja so toll, um den Preis der mentalen und Herz Kreislaufgesundheit, alterte in diesen Jahren gefühlt schneller. Nun man muss ja nicht gleich in Herrn Pollmers Horn blasen, aber ein paar Denkanstöße geben seine Bücher schon. Also alles etwas lockerer sehen! Ist ein wenig Übergewicht wirklich so schädlich? Ab wann wird’s gefährlich? Ab wann ist ein Körperfettanteil nach unten gesundheisschädlich, müssen wir alle im Normbereich liegen bzw weit darunter.Müssen wir alle einen Blutdruck von 120 zu 80 haben, oder am besten noch darunter? Die heutige Zeit will alles immer mehr optimieren, optimale Gesundheit, optimales Aussehen, optimale Blutwerte. Doch wer legt fest, was optimal ist? Waren das ein paar weltfremde Wissenschaftler, die eben mal den Durchschnitt von jungen männlichen Probanden erfasst haben? Oder gar irgendeine amerikanische Versicherungsgesellschaft, die Versicherungsprämien sparen wollte?
    Ich weiß, dass Ihr diesen Blog unter dem Motto Gesundheitsoptimierung begonnen habt, aber Euch wie in Eurem obigen Artikel nicht als Gurus aufführt, die den Stein der Weisen gefunden haben, das ist so anders, manchmal verwirrend, aber immer hochinteressant und spannend.

  • Hallo Chris,

    ein sehr guter Artikel, wir brauchen diese Hinweise für die Praxis. Ich finde mich bei Deinen Worten selber wieder und habe für mich realisiert:

    Mit den Grundlagen: Grundbewegung möglichst jeden Tag (die berühmten 10000 Schritt), dazu 1 mal die Woche intensive Sprinteinheiten und 3 mal die Woche HIIT- Krafteinheiten, nicht länger als 20 Minuten, ausreichend Regeneration an den Zwischentagen.
    Dazu Intermittierendes Fasten nach der 16:8- Regel (inzwischen ist das weggelassene Frühstück zur Gewohnheit geworden).
    Lebe ich so (das hat Einiges an Experimenten gedauert, es muß ja auch realistisch durchführbar sein), brauche ich keine starren Ernährungskonzepte, sondern kann mit den Grundlagen Gemüse und 1,5g Eiweiß/kg Körpergewicht (absolut essentiell, denke ich) sehr variieren- also auch mal mehr Kohlenhydrate, auch mal Zucker in Maßen, ohne Muskelmasse zu verlieren, ohne Fett zuzulegen, aber auch (zumindest subjektiv) ohne Beeinträchtigung der Energie- und reproduktiven Achse.

    Danke für alle Deine wertvollen Hinweise auf diesem Weg.

  • Letztens noch bei Aesir gelesen das die Menschen ihren Kalorienverbrauch im Schnitt um ca 300 Kalorien überschätzen. Sprich weniger verbrauchen als sie es tatsächlich tun und zweitens sie ihre Kalorienaufnahme durch Nahrung um satte 1050!!! Kalorien unterschätzen. Macht in Summe knapp 1350 Kalorien zuviel am Tag…

  • Ich denke die Sache ist doch die, dass unsere Vorfahren für jeden Bissen Fleisch noch wirklich haben rackern müssen. Stichwort Hetzjagd. Hieß erst mal Halbmarathon oder weiter laufen/rennen um dann eventuell Jagderfolg zu feiern.
    Da gab’s mit Sicherheit nicht jeden Tag „Grillteller“.

    Wenn heute die Hälfte der Frauen und fast Dreiviertel aller Männer übergewichtig sind ist das nicht nur die Folge einer falschen Ernährungsweise. Vielmehr fehlt es an Bewegung.

    Mit dem Auto auf Beutefang zum Supermarkt fahren ist nunmal nicht wirklich artgerecht.

    • Ich denke, die Vorstellung des jagenden Steinzeitmenschen wird überschätzt. Er wird nicht groß anders gejagt haben als andere „Raubtiere“ heutzutage. Eine Jagd kann auch nur wenige Minuten dauern, für mehr haben viele Jäger gar keine Ausdauer.
      Ein krankes oder junges Tier, was nicht so schnell weglaufen kann (z. B. Lamm), wird gezielt gerissen. Oder ein Ei wird aus einem Nest geklaut. Ein Halbmarathon ist gar nicht nötig…

      • Und: ein Großteil der Human-Evolution fand an Flüssen, Seen, Auen und Meeren statt. Es gibt genug Fleisch, das sich sammeln lässt – Muscheln und Co.

      • Hi Guido,

        Die Vorstellung vom Steinzeitmenschen wird meiner Meinung nach eher unterschätzt.

        Eben der Mensch ist der einzige Jäger der aufgrund des aufrechten Gangs (Darm drückt nicht gegen die Lunge) und der nackten Haut (Schwitzen) entscheidend mehr Ausdauer mitbringt.
        Selbst heute gibt noch Völker welche die Ausdauerjagd praktizieren. Und in ein paar Minuten ist das sicher nicht erledigt.
        Das so eine Ausdauerjagd nicht oft stattgefunden hatt erklärt sich von allein.

        Ein krankes und junges Tier läuft sicher nicht so schnell weg – stimmt. Aber macht es eine kleine Familie wirklich satt?

  • Sehe ich persönlich etwas anders. Ob Fleisch einem gut tut oder nicht, ist sehr individuell.
    Ich bekomme nach dem Fleischverzehr starke Probleme mit dem Ammoniak und Schwefel .
    Bei mir stimmt die Theorie und Praxis, da ich „Gendefekte“ besitze wo ich Schwefel und Protein meiden muss. Der nächste hat eventuell eine Mutation wo z.b mehr Protein benötigt wird und mit Fleisch geht es demjenigen besser.

    Oder anders: die Ausgangslage ist eben nicht für jeden gleich. Der eine kann in sich reinstopfen was er will und ist immer gesund, der nächste muss auf seine Ernährung achten um halbwegs normal Leben zu können.

    • Bei dir stimmt Theorie und Praxis ja gerade nicht. Vor dem Hintergrund der eigenen Evolution solltest du als Homo sapiens ja in der Lage sein, Fleisch ohne Probleme zu essen. Aber genau darum ging‘s in dem Artikel ja…

    • „Bei mir stimmt die Theorie und Praxis, da ich „Gendefekte“ besitze wo ich Schwefel und Protein meiden muss.“

      Was für eine wichtige Aussage!?

      Gene bestehen allerdings gerade eben aus Schwefel und Proteinen. Und zirka 80 Prozent der Humangene sind so gennannte Genschalter. Soll heißen Gene sind beinflußbar.

      So What?

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