unfruchtbar gen chdh betain

Wenn das Spermium muckt

Ist doof. Keine Frage, nicht wahr?

Ein Spermium ist ein bisschen wie ein Mensch. Das kann fit oder ein Couchpotato sein. Es kann also Marathon laufen und sprinten oder die Chips aus dem Schrank holen.

Genvariante macht Spermien antriebslos

Vor kurzem bin ich über eine etwas ältere Arbeit (2012) gestolpert, deren Ergebnisse ich so unfassbar fand, dass ich sie hier teilen möchte. Und zwar hat man herausgefunden, dass Menschen, die eine bestimmte Genvariante der Cholin-Dehydrogenase (Chdh) tragen,

  • „eine veränderte Spermienmotilität und eine dysmorphe mitochondriale Struktur“ zeigen (Spermien bewegen sich komisch und die Mitochondrien schauen ungesund aus) und
  • Spermien 40 % (einmal vererbt) oder 73 % (doppelt vererbt) weniger ATP, also Energie bilden.

energiemangel im spermium

Davor hatten die Forscher entdeckt, dass die Cholin-Dehydrogenase für eine normale männliche Fruchtbarkeit bei Mäusen notwendig ist, denn: Männliche Mäuse, die so gezüchtet sind, dass sie das Enzym nicht mehr bilden können (Knockout-Mäuse), „sind aufgrund einer stark beeinträchtigten Spermienmotilität unfruchtbar.“

Das arme Spermium wird dann also gezwungenermaßen zum Couchpotato. Warum? Weil der Enzymmangel offenbar die Struktur der Mitochondrien negativ beeinflusst – und die sind bekanntermaßen essentiell dafür, genug Energie zu bilden. Manchmal sind Zusammenhänge erstaunlich simpel.

Die Genvariante, genauer: der SNP, von dem hier die Rede ist, heißt rs12676. Das doofe Allel ist das T-Allel. 40 % der europäischstämmigen Bevölkerung trägt es einmal (von Mama oder Papa geerbt), 2-9 % sogar doppelt (von Mama und Papa geerbt). Umgekehrt: Die Hälfte der Bevölkerung hat diese Probleme nicht, trägt GG bzw. CC.

Die Studie schreibt: Genotyp rs12676 TT meldete die geringste Anzahl biologischer Kinder pro Proband (0,33) und die höchste Rate an Spermienanomalien/Unfruchtbarkeitsdiagnosen (33 %) aller Gruppen, was darauf schließen lässt, dass Männer mit dem Genotyp TT möglicherweise unfruchtbar sind.

Autsch! Also jeder Zehnte bis jeder Zwanzigste ist auf Basis nur dieser Genvariante … unfruchtbar?! Und insgesamt ist fast jeder zweite Europäer von einer deutlichen ATP-Reduktion seiner Spermien betroffen – was möglicherweise aber (noch) nicht reicht, um die Fruchtbarkeit einzuschränken.

Betain macht Spermien-Energie

Eine unschöne Geschichte wird schöner, wenn sie ein gutes Ende hat. Um auch hier ein Happy End zu finden, sollte man verstehen, welche Aufgabe diese Cholin-Dehydrogenase – Teil des komplexen Cholin- bzw. Ein-Kohlenstoff-Stoffwechsels – hat.

one carbon metabolism
Die Cholin-Dehydrogenase (Chdh) ist ein Enzym im komplexen Cholin- bzw. Ein-Kohlenstoff-Stoffwechsel, wo es Cholin zu Betain umsetzt – im Mitochondrium. 

Dieses Enzym macht aus Cholin das mal berühmt gewesene Trimethylglycin aka Betain. Jetzt wird’s spannend. Denn: Ein Funktionsverlust dieses Enzyms senkt die Bildung von Betain aus Cholin.

Tatsächlich wiesen Spermien der TT-Träger im Vergleich zu GG- bzw. GT-Träger einen erheblich reduzierten Betain- und auch Cholingehalt auf. Die Forscher konnten also verifizieren, dass zumindest bei doppelter Vererbung des Allels der Betaingehalt drastisch verringert ist.

Hier stecken zwei super spannende Erkenntnisse drin:

  1. Offenbar ist Betain sehr wichtig für eine gute Mitochondrienfunktion.
  2. Betain kommt im Essen vor und man kann es supplementieren.

Die Autoren schreiben:

Es ist möglich, dass das Betainmolekül selbst eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Hoden- und Spermienfunktion und insbesondere der ATP-Konzentration in den Spermien spielt.

Tatsächlich gibt es mehrere voneinander unabhängige Studien, die nahelegen, dass Betain die Mitochondrienfunktion verbessert (Q, Q, Q). Auch ein aktuelles Review bespricht die vielfältigen positiven Wirkungen von Betain auf den Körper sehr ausführlich.

Man kann es einnehmen

Zum Thema ergänzen sei gesagt, dass Studien mit circa 3-6 g arbeiten. Über die Nahrung nehmen wir typischerweise ca. <0,5-2 g auf – wie hoch die endogene Synthese ist, die es bei solchen „Gendefekten“ zu kompensieren gilt, ist unklar.

Die schönste Erkenntnis nun aber ganz zum Schluss:

Die Nahrungsergänzung mit Betain bei männlichen Chdh-Knockout-Mäusen führte zu einer vollständigen Wiederherstellung des ATP-Spiegels in den Spermien und zu einer Zunahme der progressiven Motilität dieser Zellen

Heißt, der Funktionsverlust des Enzyms und damit die abfallende Betainsynthese und der daraus resultierende Energiemangel der Spermien lässt sich zumindest in Tierstudien durch die einfache Betain-Supplementation „vollständig“ umkehren. Sensationell, oder?

So stelle ich mir jedenfalls moderne Nutrigenomik vor. Man kennt seine genetischen Schwächen und kann gezielt nachhelfen. Vermutlich hätte eine vollwertige Ernährung, das heißt, eine möglichst minimalprozessierte Ernährung schon gereicht, um ausreichend mit Betain versorgt zu sein – Rote Bete sticht hier besonders als Betainquelle heraus.

Das ist bei modernen, ausgewaschenen, energiedichten, gemüsearmen Ernährungen nicht garantiert. Paradoxerweise ist Weizen eine der besseren Betainquellen. Vielleicht ist das der Grund für die hiesige Weizensucht ;-) Dann hätte dies auch mal was Gutes!

Memo an uns

Mit Betain (Trimethylglycin) kann man sich aus diversen Gründen mal beschäftigen. Man kann natürlich auch nochmal vermehrt über Cholin nachdenken, denn man macht dem lahmen Enzym Feuer unter dem Hintern, wenn man mehr vom Substrat – Cholin – anbietet ;-)

Diese Zusammenhänge wurden z. B. in einer Studie nahegelegt, die zeigte, dass Frauen vor der Menopause schneller Organ-Dysfunktionen bei einer cholinarmen Ernährung entwickeln (durch Betain-Mangel?), wenn sie Träger des T-Alles sind.

Disclaimer: Da es ein sensibles Thema sein könnte, möchte ich hier nochmal anmerken: Es ist eine Studie. Es gibt bis heute keine Studie, die die Ergebnisse überprüft hat. Also keine Panik, falls du TT bist.

 

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

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