Es gibt ein aktuelles Video von Prof. Robert Lustig, über das ich die Tage gestolpert bin.
Wer ihn nicht kennt: Robert Lustig ist Professor für Neuroendokrinologie an der Universität von Kalifornien in San Francisco. Bekannt geworden ist er durch sein relativ berühmtes Video zu Fruktose („Sugar: The Bitter Truth“) mit mittlerweile 24 Mio. Aufrufe.
Kurz gesagt: Er behauptet, fast alle (Stoffwechsel-)Krankheiten stehen im Zusammenhang mit exzessiven Zuckermengen in der Nahrung. Das Video hatten wir hier ausführlich besprochen. Lange ist’s her.
So weit, so gut. Mit der grundlegenden Idee gehen wir mit. Woran seine Ausführungen am Ende des Tages aber scheitern, darauf möchte ich heute kurz eingehen.
The Good
Zunächst einmal die gute Nachricht: Er differenziert nach wie vor gut zwischen Glukose (über die Nahrung via Stärke zugeführt) und Zucker. Das fällt vielen Menschen schon mal schwer, die mir in Kommentarspalten bei Instagram immer noch erklären wollen, dass ja auch Brot im Körper wie Zucker wirke. Falsch. Ganz falsch.
Was mir auch gefällt: Er sagt, Übergewicht an sich sei nicht das Problem. Es sei eher ein Marker, ein Abfall- oder Folgeprodukt der Stoffwechselentgleisung, die ja irgendwo ihren Ursprung haben muss.
Gefällt mir, weil Normalgewicht, vorrangig definiert über BMI, ja oft nicht die Wahrheit sagt. Auch das zeigt er gut über die s. g. TOFIs, die von Außen dünn aussehen und innen an den Organen verfettet sind. Ein ähnliches Beispiel wäre ein „übergewichtiger“ Kraftsportler mit hoher, schützender Magermasse im Vergleich zu einem schmächtigen Männlein ohne Bizeps.
Und dann zeigt er eine Liste, die mich sehr erfreut. Da strahlt das Herz von Menschen, die sich mit dem Energiestoffwechsel befassen. Stoffwechselentgleisungen resultieren nach Lustig aus folgenden Punkten:
Er definiert hier die s. g. „Hateful Eight“, die, wie er sagt, „die subzellulären Prozesse sind, die der chronischen Krankheit zugrunde liegen“. Genau das. Wenn die Punkte oben stimmen, stimmt meistens auch die Gesundheit des Menschen. Und er bricht runter:
- Glykation: Verzuckerung von Proteinen, uns bekannt z. B. als HbA1c
- Oxidativer Stress: Zu viele Sauerstoffradikale im Körper machen z. B. insulinresistent, treiben die Alterung voran
- Mitochondriale Dysfunktion: Lieblingswort von edubily- bzw. genmax-Lesern. Den meisten sicher bestens vertraut. Ohne funktionierende Mitochondrien kann Energie ja schon mal gar nicht ordentlich verbrannt werden.
- Insulinresistenz: Das ultimative Hallmark von Stoffwechselentgleisungen. Der halbe Blog hier handelt genau davon.
- Membran-Integrität: Er meint, Membranfluidität, also die Beweglichkeit der Zellmembranen, die von der Fettsäurenkomposition abhängt. Die Fluidität bestimmt maßgeblich die Membranfunktion unserer Zellen. Auch das hatten wir schon im Blog (hier) – ohne funktionierende Membranen „verstehen“ Zellen nicht, was wir von ihnen wollen.
- Entzündung: Niedriggradige, chronische Entzündungen kennen wir auch. Sind schlecht für unsere Stoffwechselgesundheit.
- Epigenetik/Methylierung: Ein richtig eingestelltes Epigenom ist wichtig. Alles, was wir an Umwelt auf uns wirken lassen, ändern uns Epigenom – zu unserem Vor- oder Nachteil.
- Autophagie: Die Zelle muss sich selbst verdauen können. Nur so kann sie gesund bleiben, z. B. via Abbau schadhafter Proteine.
(Zum Vertiefen bitte die Blogsuche benutzen!)
Alles richtig. Ein gesunder Lebensstil, über den wir so häufig schreiben, zielt auf jeden einzelnen Punkt ab. Denn genau genommen hängen die ganzen Punkte ja zusammen, bedingen sich gegenseitig.
Ein gesunder Lebensstil korrigiert sämtliche Anomalien hier. Drum sagt er: „Keiner dieser Signalwege ist mit Medikamenten behandelbar, bis auf vielleicht Entzündungen“. Stimmt so nicht ganz. Stichwort Metformin. Aber egal, die Botschaft stimmt: Sie sind alle „foodable“, sprechen also auf Änderung des Lebensstils bzw. der Ernährung an.
Und weiter: Der entscheidende Punkt hierbei sei prozessierte vs. weitestgehend unprozessierte Nahrung. Wer sich also weitestgehend unprozessiert ernährt, gewinnt. Sogar mehr oder weniger unabhängig vom Kohlenhydrat- vs. Fettgehalt der Nahrung. Zitat Lustig.
So weit, so fantastisch. Doch dann setzt schlagartig wieder dieses Gefühl bei mir ein.
The Bad
Denn jetzt passiert etwas, was argumentativ häufig passiert, wenn Menschen sich auf ein Thema einschießen und vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen.
Denn nachdem er nun ein paar Minuten lang auf jeden einzelnen Punkt oben eingeht und richtig schlussfolgert, dass prozessiertes Essen maßgeblich schuld an unseren Problemen hat, schwenkt er argumentativ plötzlich um und zeigt uns eine Zusammenfassung:
Wer einfach mal kurz überfliegt, wird feststellen, wie oberflächlich die „Lösungsvorschläge“ hier sind. Runter gebrochen nämlich ist des Rätsels Lösung natürlich einmal mehr:
- Kohlenhydrate
- Allen voran (Haushalts-)Zucker
- Und natürlich ein paar fehlende Mikronährstoffe, ein paar fehlende Ballaststoffe, zu wenig Omega 3s, zu viel Omega 6, zu viele Transfette, Überfressen
Die üblichen Verdächtigen also.
In seinem Kosmos existiert die Möglichkeit gar nicht, dass Menschen auch dann insulinresistent und stoffwechselkrank sein können, wenn sie konsequent Zucker und die meisten Kohlenhydrate vom Speiseplan streichen. Hatten wir hier mal bildlich dargestellt.
In diesem Kontext existiert auch nicht die Möglichkeit, dass Insulinresistenz durch Übergewicht verursacht wird (und nicht umgekehrt) – und durch simple Kalorienrestriktion umkehrbar wäre, wie ja tausendfach schon bewiesen (mehr dazu hier).
Teilweise werden Themen falsch erklärt: So steht bei Insulinresistenz nun BCAA – also verzweigtkettige Aminosäuren. Aber die machen nicht insulinresistent, sondern steigen bei Insulinresistenz im Blut an. Ein kleiner Unterschied, weil Ursache mit Wirkung vertauscht.
Wieder einmal wird komplett am Kern vorbeigeredet, weil ein so kluger Forscher am Ende des Tages so ideologieverblendet ist und nicht mehr weiterdenkt. Denn all diese Punkte da oben hängen genau von einer Sache ab:
Einem Ungleichgewicht zwischen AMPK (Katabolismus) und mTOR (Anabolismus).
Das ist unser Kernproblem in der westlichen Welt. Deshalb weiß ein afrikanisches Kind, das sich von Maisgries und Hirse ernährt, nix von Omega 3 oder Fruktose, kennt aber unsere Probleme nicht, weil es … halt gezwungenermaßen ein hohes AMPK hat. Gilt übrigens sowohl für den Buschmann in Australien als auch für die Tsimane in Bolivien, die Subsistenzwirtschaft betreiben.
Und mit Blick auf AMPK führen eben viele Wege nach Rom:
- Simple Kalorienrestriktion
- Kein Kalorienüberschuss (hemmt AMPK)
- Nicht Überfressen (hemmt AMPK)
- Je nach Genetik: nicht zu viele Tierprodukte (hemmt AMPK)
- „Clean bleiben“ – Umweltgifte hemmen AMPK
- Intermittiernendes Fasten
- Ja, auch mal Low carb
- Aber auch Veganismus
- Ein niedriges Ferritin
- Bewegung
- Pflanzenstoffe und Fasern
- usw.
Wird im Blog bei uns rauf- und runterdiskutiert. In meinen Augen ist die Darstellung Lustigs also völlig unterkomplex und adressiert wichtige Punkte, die viel relevanter sind als irgendein Makronährstoff, gar nicht.
The Ugly
Leider setzt Lustig dem Ganzen noch die Krone auf, indem er erklärt, dass Sport bei den meisten von ihm angeführten Punkte nix bringt:
- Gegen Verzuckerung hilft Sport nicht.
- Gegen oxidativen Stress hilft Sport nicht.
- Die Membranfunktion wird durch Sport nicht besser.
- Die Epigenetik würde sich durch Sport nicht ändern.
Puh. Auch hier wird ja wieder nicht weitergedacht. Sport wirkt ja nicht nur akut, sondern quasi als Feedforward-Signal, das uns hilft, ganz automatisch gesünder zu leben, z. B. durch bessere Sättigungsregulation, durch besseres Nutrientsensing (beides hemmt Überfressen) usw.
Er behauptet im Video, dass Sport sogar oxidativen Stress erhöht, was ja komplett falsch ist, denn Sport erhöht viele antioxidativen Proteine in der Zelle, Stichwort Hormesis. Denn akut erhöht Sport via Steigerung des Sauerstoffumsatzes natürlich die Radikalenbildung, langfristig aber eben nicht, eher im Gegenteil. (Vgl. Q)
Seit Jahrzehnten bekannt ist, dass Sport die Membranfunktion unserer Zellen verbessert, indem sich die Membranlipidzusammensetzung durch Sport ändert (Q). Lustig behauptet hier das Gegenteil.
Wir kommen zu dem Schluss, dass regelmäßiges Training mit niedriger Intensität die Fettsäurezusammensetzung der Phospholipide in der Skelettmuskulatur beeinflusst, was hypothetisch zu Veränderungen der Fluidität der Skelettmuskelmembran beitragen und die periphere Insulinempfindlichkeit beeinflussen könnte.
Plus, wer kurz weiterdenkt: Sport ist der ultimative AMPK-Aktivator des Ganzkörpers und wird damit zwangsläufig alle Punkte oben verbessern. Freilich bleibt Ernährung am Ende des Tages aber der Schlüssel.
Mein Fazit zu dem Video
… lautet daher, „gut gemeint, ist nicht automatisch gut gemacht“. Prof. Robert Lustig äußert in dem Video viele Punkte, die ich gut finde. Die Schlussfolgerungen sind aber teils hanebüchen und greifen viel zu kurz. Damit gewinnt der gemeine Leser nicht viel.
Denn die logische Konsequenz kennen wir nur zu gut: Greifen die Maßnahmen nicht gleich, also hier offenbar Kohlenhydrat- aber vor allem Zuckerreduktion, ziehen Menschen die Zügel noch weiter an und glauben am Ende des Tages, sie müsste sich in die Ketose quälen, um irgendeinen Erfolg zu haben.
Statt Menschen also einen Strauß an Möglichkeiten an die Hand zu geben, ihnen zu erklären, wie die moderne Umwelt sich als Ganzes von unserer ursprünglichen Umwelt unterscheidet, wird hier wieder einmal nur eine Botschaft gepredigt.
Ein Quick Fix funktioniert einfach nicht. Weder argumentativ noch in der Praxis. Haushaltszucker in den allgemein konsumierten Mengen ist ungesund. Das Streichen von Zucker ist aber nicht der heilige Gral zum Bekämpfen all unserer Probleme. Leider.
12 comments On Top und Flop beim neuen Video von Robert Lustig
Hi Chris,
danke für deine klare und herzerfrischende Kommentierung dieses Videos. Am meisten haben mich die Ausführungen des Professors zum Thema Sport irritiert.
Allerdings frage ich mich immer wieder, welche Möglichkeiten hat denn nun konkret der TOFI eigentlich eine Insulinresistenz wieder loszuwerden. Ist man Gewichtsmäßig eher an der Schwelle zum Untergewicht, bleibt nicht viel, Kalorienrestriktion, Interm. Fasten, Low Carb scheiden quasi aus. Bleibt noch Sport und Bewegung und auf ausreichend Ballaststoffe achten. Vielleicht noch einige Mikronähsstoffe messen lassen, doch dann wird es schwierig oder???
LG
Martin
Herzlichen Dank!
Ich kenne mich damit ehrlich gesagt nicht wirklich aus. TOFIs, von denen ich glaube, dass sie solche sind, essen oft ziemlich ungesund. Und sie haben gelernt, dass sie es können, weil sie zu denen gehören, die subkutan oft kaum oder wenig Fett ansetzen und aufgrund ihrer geringen Magermasse auch nicht dick wirken oder aussehen. Stattdessen haben die halt Viszeralfett, das später, so ab 50 tödlich wird. Bis dahin glauben sie sich in Sicherheit, weil … sie ja schlank sind.
Wenn die Ernährung bereits umgestellt ist, sollte sich eigentlich Besserung ergeben. Wenn dies nicht der Fall ist, sollte man mal eine Energierepartitionierung denken. Vielleicht braucht der Körper dieser Leute paradoxerweise mehr Anabolismus und mehr Magermasse. Vielleicht hilft Krafttraining bei diesen Leuten.
Aber wie gesagt, das ist spekulativ und hängt vom Einzelfall ab!
Beste Grüße
CM
Woher weiß ein TOFI (ich kannte den Begriff bzw. die Abkürzung vorher gar nicht, wieder was dazugelernt) eigentlich, dass er ein TOFI ist?
Wird sowas zum Beispiel mittels BIA-Körpermessung festgestellt, wo man sich auf so eine größere Waage stellt, die dann irgendwelche Wellen durch den Körper schickt, um den den Anteil an Muskelmasse, Fettmasse, Knochenmasse, Körperwasser etc. zu ermitteln?
Ich finde die Lösung recht naheliegend. Natürlich kann bei schlanken Menschen Sport die Insulinresistenz beenden, da Sport die Insulinempfindlichkeit der Muskeln erhöht.
Es ist anscheinend eine weit verbreitete Schwäche von eigentlich durchaus fähigen und kompetenten Zeitgenossen, sich irgendwann in seinen eingenen Vorstellung zu verlieren und zu stark und dogmatisch zu simplifizieren. Dabei ist der AUsgangspunkt oft genug aller Ehren wert, plausibel und gut belegt/recherchiert. Nur nach Jahren bis Jahrzehnten der Fokussierung eines Themas, verliert man schon mal den breit gefächerten Überblick und verfällt auf allzu einfache Lösung für komplexe Fragestellungen/Probleme.
Absolut. Ich denke dem liegen zwei Phänomene zugrunde: Erstens, jeder Mensch versucht automatisch, Komplexes zu simplifizieren und Differenzierung durch einfache Lösungen zu ersetzen, einfach, weil es dem Gehirn schwer fällt und es energetisch ungünstig ist, immer ein zu komplexes Gedankenkonstrukt im Arbeitsspeicher des Hirns zu halten, wenn man alltägliche Entscheidungen trifft. Zweitens, jeder Wissenschaftler strebt danach, die einheitliche Feldtheorie zu finden, was sich offenbar paart mit dem, was Einstein gesagt haben soll: „Wenn du es nicht einfach erklären kannst, hast du es nicht gut genug verstanden.“
Und genau daraus resultieren dann solche Versuche, bei denen die Leute kläglich scheitern und paradoxerweise vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen bzw. am Ende des Tages sogar Kardinalfehler eines Wissenschaftlers begehen. Bei Lustig heißt das halt auch gegen jede Evidenz: Zucker ist quasi an allem schuld. :( Und wenn’s nicht ganz passt, sind es halt Kohlenhydrate oder vielleicht Mastfleisch….
Herzlichen Dank!
Vielen lieben Dank für die Beleuchtungen!
Moin Chris.
Immer wieder angenehm zu lesen, wie du ideologische Entgleisungen wieder erdest. Von einem Robert Lustig hätte ich eine so kurze Sichtweise nicht erwartet.
Im Strunzforum kann man sich bei diesem Thema die Finger wundschreiben, und ist immer erstaunt, wie die Leute sich an ihre vereinfachten Thesen klammern.
Allein zu sagen, eine Insulinresistenz wird ausgelöst durch eine ständige Überfrachtung der Zellen mit Nährstoffen, egal welchen Substrats, löst seitenweise Diskussionen aus.
Hi Thomas,
danke für deinen Kommentar.
Wenn schon eigentlich hoch dekorierte Professoren und schlaue, gebildete Menschen immer wieder ideologie geleitet handeln und ganz offensichtlich die Scheuklappen auf haben, wie will man dann von einem „Normalo“ erwarten, dass er das differenziert durchdenkt? Ich muss nach all den Jahren auch zugeben, dass man sich sehr in all diesen Dingen verlieren kann, und es wird tendenziell schlimmer, je länger man sich damit befasst. Daher habe ich mittlerweile sowohl verständnis für diese älteren Professoren als auch für Menschen mit wenig Vorbildung. Auch, obwohl es eigentlich nicht zu viel erwartet ist, einfach mal einen Schritt zurückzumachen und es von oben zu sehen bzw. den „Ideologie-Schweif“ abzuwerfen, indem man nicht immer „eine Lösung für alle Probleme“ präsentieren will. Die heutige Zeit, die Schnelllebigkeit usw. verschärft das Problem aber eher, weil es heute offenbar immer nur darum geht, die beste „einheitliche Feldtheorie“ zu finden.
BG Chris
Hi Chris, Tippfehler! Du hast teilweise Ludwig geschrieben!
Herzlichen Dank für den Hinweis, korrigiert! Tatsächlich will der Name Lustig bei mir einfach nicht hängen bleiben. Warum auch immer! :D