Normal bleiben 2

Wie schwer es ist, „normal zu bleiben“, erkennen wir an der Vielfalt oder Vielzahl der Gurus. Jeder dieser Gurus vertritt eine Wahrheit mit entsprechendem Publikum. Das Lustige dabei ist, dass es selten um die Wahrheit geht, sondern nur um Dinge, die wahr klingen.

Nur so kann ich mir erklären, dass ein Vegan-Guru, Karl Ess, mit 500.000 jugendlichen „Anhängern“, mit breiter Brust seine Videos zu Mikronährstoffen vorstellt und nach 3 Minuten erklärt, dass Atome, die künstlich hergestellt wurden, ja gar nicht mehr in die Zelle hinein passen.

Dass das nicht nur nicht wahr ist, sondern großer Schwachsinn, erkennen wir dann, wenn wir merken, dass ein Atom 500.000x kleiner ist als eine Zelle.

Wenn das jemand dann 8 Wochen praktiziert und mit viel Salat anstelle von BigMac, 20kg abnimmt, dann freut mich das. Aber hier geht es um etwas ganz anderes: Viele Menschen vertrauen solchen Menschen ihr Leben an.

Diese Art der Hörigkeit unterscheidet sich nicht viel von einem gelebten Sekten-Dasein.

Und immer ist es das Gleiche: Jemand steht vorne, verbreitet Wahrheiten, hilft anderen Menschen aus ihrem „Serotonin-Sumpf“ im Kopf und schon fließt das Geld nur noch in eine Richtung, weg von dir, hin zu ihm.

Dass das euch nicht ein bisschen komisch vorkommt, wenn ein Trottel, der nicht mehr kann als ihr, plötzlich den zweiten Porsche kauft und das auch noch stolz im facebook zeigt – von der anfänglichen Demut, von der Vision, anderen Menschen zu helfen, ist keine Spur mehr.

Das ist ein universelles Phänomen auf allen Ebenen der menschlichen Relevanzen: Ernährung, Glauben, Wirtschaft etc.

Und der Verlierer bist du. 

Hier kann also weder der Guru normal bleiben, noch seine Anhänger.

Noch viel schwieriger wird es, wenn dann Menschen daher kommen, die angesehene (wissenschaftliche) Ausbildungen haben, vielleicht noch einen Doktor-Titel und dann anfangen zu erklären, wie man lebt.

Denn: Einige Menschen glauben tatsächlich, dass sie eine andere Persönlichkeit werden, wenn sie solchen Ratschlägen folgen.

Die glauben dann wirklich, dass sie auch anfangen können etwas besonderes zu praktizieren, besonders zu leben, sich besonders zu fühlen.

Und plappern dann alles nach, was der Chef, der Guru, so vorsagt.

Auch hier sehe ich ein Phänomen: Wenn die Messlatte, die künstliche Messlatte, die menschen-gemachte Seifenblase, in unserer Gesellschaft nicht so krankhaft hoch liegen würde, müsste der Mensch auch nicht immer so ein anomales Verhalten zeigen, das ihn im Glauben lässt, diese Messlatte auch zu erreichen, „da oben mitzuspielen“. Alleine dieser Ausdruck ist eine Illusion.

Vielleicht kommst du nur „da hoch“, wenn du dort unten bleibst, derjenige bleibst, der du bist – normal bleiben.

Die Wahrheit aber ist, dass wir gerne selbst Teil dieser Luftblase wären. Wir denken uns: Ich weiß, dass es nicht der menschlichen Wahrheit entspricht, aber… Ja, genau, „aber“. Dieses „aber“ heißt Ego.

Dieses Ego sieht die leuchtende Zukunft, die tollen Urlaube, dieses „Ich stehe über dir“-Gefühl.

Als ich länger in dieser amerikanischen Paleo-Szene unterwegs war, ist mir dieses „Ich stehe über dir“-Gefühl immer und immer „über den Weg gelaufen“.

Wir sind Teil einer Bewegung, die mehr weiß, als der Normalbürger, wir werden älter, sind gesünder, haben mehr Muskeln, weniger Fett, kurz: Wir haben das, wonach du dich – Specki mit Marmeladen-Weißbrot – so sehr sehnst. Und deshalb lachen wir über dich, wenn du an der Kasse im Supermarkt vor uns stehst und Brot, Kartoffeln und Nudeln auf das Band legst.

Doof und peinlich wird es nur, wenn der Typ vor uns aber dünner, muskulöser ist als wir selbst und mit 50 auch noch aussieht als sei er 35. 

Und dann gehen die Gedanken los: Wieso der? Was macht der anders? Isst der das tatsächlich? Wie kann das sein? Der isst doch nur dieses Kohlenhydrat-Zeug? Macht der eine spezielle Diät?

Viele Menschen haben bis dahin längst etwas vergessen, was jedes Kleinkind im Kindergartenalter weiß: Isst du weniger, nimmst du ab.

Halt: Dieses Argument zählt nicht mehr, denn Kalorien haben wir nach dem Jahrtausend-Wechsel abgeschafft. Seit es ketogene Diäten gibt, gibt es Menschen, die ernsthaft glauben, dass man lediglich „0 Kohlenhydrate essen muss“, damit man noch mehr abnimmt.

Die selben Menschen glauben dann, dass man mit 200g Fett am Tag dann auch noch den Schwabbel verliert.

Den Höhepunkt meines Daseins habe ich erreicht, als ich den Hornbach (einen Baumarkt) gefahren bin und habe mir dort Beef-Jerky gekauft – was ja eigentlich für Hunde gedacht war.

Meine Freunde konnten es kaum glauben: Der frisst Hundefutter!

Aber, wie gesagt, normal sein konnten wir noch nie.

Wir haben zwar auf Kohlenhydrate verzichtet, aber haben wir auf mehr Freundschaften wert gelegt? Waren wir mehr im Freien, in der Sonne? Haben wir uns dann mehr und besser bewegt? Haben wir darauf wert gelegt, besser und tiefer zu schlafen, darauf, dass wir uns weniger auffressen lassen von unserem Stress?

Das, genau das ist der Grund, warum Menschen, die in unseren Augen zwar etwas — „doof“ sind, noch nie etwas von Diäten, ketogen, Paleo etc. gehört haben, aber am Ende besser leben als wir selbst.

Unsere kleine Hündin hat kein 1400cm³ großes Gehirn, braucht somit also auch keinen Denkvorgang um zu entscheiden, ob es ihr grad nicht gut tut, was da passiert oder ob sie gerne noch an die frische Luft will, spielen.

Und so meinen wir, wir könnten die Welt kategorisieren, konzeptionalisieren und glauben im Ernst, wir hätten eine einheitliche Feld-Theorie entdeckt, wenn wir uns Vegan oder no carb ernähren.


Seit es Menschen auf diesem Planeten gibt, gibt es Hungersnöte, Nahrungsengpässe, musste die Nahrung gesucht werden.

Man konnte also nicht morgens an den Kühlschrank laufen, um einen Fruchtzwerg zu essen.

Daraus ergibt sich zwangsläufig, dass es sehr viele Phasen gab, in denen wir darauf angewiesen waren, von unseren Fettspeichern zu leben. Dieser Gedanke: „Ich lebe von meinen Fettspeichern“, sollte sich ganz einfach jeder hinter dir Ohren schreiben.

Wir sollten also lernen, regelmäßig von unseren Fettspeichern zu leben, entweder in Form einer Kalorienknappheit (Restriktion) oder einer totalen Abstinenz (Fasten).

Wir praktizieren das also in aller Regelmäßigkeit, verbrennen dabei unser Leberfett, unser Blutfett und unser Organfett, sind danach wieder insulinsensitiv, mit weniger Körperfett, weniger Blutdruck und ohne Diabetes.

Das, was wir aber dabei immer bedenken sollten, ist die Tatsache, dass der Körper nicht nur da ist, um „katabol“ zu sein, sondern, dass es auch Phasen (unbedingt!) geben muss, in denen wir unserem Körper signalisieren, dass „genug“ da ist.

Und dieses „Es ist genug da“-Signal entsteht im Körper immer dann, wenn Insulin kommt.

Es ist deshalb so wichtig, weil sich die Evolution ein paar Gedanken gemacht hat: Wenig Insulin heißt im Sinne der Evolution Nahrungsknappheit, was aber im Umkehrschluss bedeutet, dass wir uns nicht reproduzieren wollen. Und so gehen unsere anabolen Hormone den Bach runter, darunter auch T3 und Testosteron.

Hadza Jäger und Sammler haben durchweg weniger Testosteron als wir, weil sie konstant mehr Nahrungsstress erleben, als wir.

Normal ist das, was seit 2,4 Millionen Jahre passiert. Normal ist nicht (zwingend), was dein Guru sagt.

Wie schön, glaubst du, könnte es sein nach 18,36,54 Stunden Fasten, zum Achmed, Dönner-Mann, zu fahren und sich nach Herzenslust an seinem Sortiment zu bedienen?

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

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