Warum niemand im Internet perfekte Ratschläge geben kann

Heute versuche ich mal zu versinnbildlichen, warum niemand, also auch wir nicht, einer breiten Masse perfekte, endgültige und definitive Ratschläge geben kann.

Von Kommunikationsproblemen und dem Dunning-Kruger-Effekt

Vor einigen Jahren habe ich für einen Beitrag mal Komponenten eines alten Computer-Spiels genutzt, um zu verdeutlichen, warum es zwischen Menschen oft zu Kommunikationsproblemen kommt. In diesem Computer-Spiel gab es rechts oben immer eine Landkarte. Auf dieser Karte erkannte man nur immer die schon bereisten Flächen. Das sah so aus:

Das, was im dunklen Bereich war, konnte man also nur erahnen. Gehen wir mal davon aus, dass das unsere beschränkte Sicht der Dinge in vielerlei Bereichen ist. Wie will so einer dann mit so einem diskutieren:

Problematisch ist, dass unsereins ja normalerweise keine „Landkarte des Wissens“ (oder: der Beschränktheit) rechts oben im Sichtfeld hat und damit zusätzlich nicht mal erahnen kann, wie groß die Fläche eigentlich ist, die er gar nicht sieht.

Die menschliche Psyche spielt uns zusätzlich streiche, weil das Gehirn tunlichst vermeiden möchte, dass wir uns dessen bewusst sind. Deshalb fühlen wir uns oft ein bisschen größer als wir eigentlich sind – und deshalb schätzen wir viele Zusammenhänge ein bisschen falsch ein. Das nennt sich dann zum Beispiel Dunning-Kruger-Effekt.

Von gesicherten Bereichen und Spekulationen

Übertragen wir das doch heute mal auf Ratschläge im Gesundheitsinternet. Dazu nehmen wir eine andere Karte, nämlich eine von Deutschland:

Wir sehen im Zentrum einen Bereich, in dem sich alles gut erkennen lässt. Übertragen auf uns: Das ist der „Tatsachen-Bereich“. Man kann diesen Bereich auch als „Bereich der Standardfloskeln“ bezeichnen:

  • Ein Mensch muss trinken, um gesund zu bleiben.
  • Ein Mensch muss schlafen, …
  • Ein Mensch muss essen, …

Und so weiter. Da wir uns entlang eines Spektrums bewegen, werden die Aussagen nach außen hin immer etwas unpräziser. Jetzt geht es zunehmend nach Wahrscheinlichkeit.

  • Sportler profitieren (mit hoher Wahrscheinlichkeit) von mehr Protein.
  • Ein Apfel ist (…) besser als Apfelsaft.
  • Naturbelassenes Essen ist (…) besser als die verarbeiteten Pendants.
  • etc.

Und diese Wahrscheinlichkeiten kann man weiter aufdröseln und zum Beispiel auf Personengruppen übertragen – heißt, es wird insgesamt differenzierter und schwerer, einer breiten Masse passende Ratschläge zu geben.

Zwar befinden wir uns quasi schon im etwas graueren Bereich. Flüsse, Städte, Gebirge und Co. sind allerdings noch so gut zu erkennen, dass sich ein einigermaßen klares Bild zeichnen lässt. Bis hierhin können wir sagen, dass die genannten Ratschläge bzw. Aussagen sehr sicher zutreffen.

Jetzt kommt aber der Punkt: Wer die (individuelle) Deutschland-Karte insgesamt zeichnen will, muss sich mit dem dunkelgrauen bzw. schon schwarzen Bereich auseinandersetzen. Bezogen auf den jeweiligen Menschen, also uns Individuen, bedeutet das, dass wir unsere eigenen Besonderheiten herausfinden müssen, ohne, dass wir dafür konkret auf bereits vorhandene Karten zurückgreifen können. Das ist der Bereich, um den niemand herumkommt – und zeitgleich ist der Bereich der Grund, warum es oft Glaubenskriege gibt.

Denn keiner kann uns als Individuum sagen, was uns guttut oder nicht. Das müssen wir selbst herausfinden. Hilfreich dabei ist die vorausgegangene Evidenz, also Beweislast. Wir sehen nämlich bereits Flüsse, Gebirge und teilweise auch noch Städte im dunklen Graubereich, die uns Hinweise darauf geben können, wie es im schwarzen Bereich aussieht.

Und tatsächlich können wir „unseren schwarzen Bereich“ selbst erkunden und – mit dem gesicherten Wissen ausgestattet – mehr über die restliche, noch versteckte Landschaft herausfinden, die bei jedem Menschen anders aussieht und nicht per se eine Deutschland-Karte repräsentiert.

Das heißt: der grauschwarze Bereich ist gekennzeichnet durch eigenes, individuelles, situationsbedingtes Entdecken und Extrapolation von bereits vorhanden Daten.

Von dem falsch verwendeten Begriff „evidence-based“

Es fällt im Gesundheitsinternet ja mittlerweile zunehmend der Begriff „evidence-based“. Leider wird dieser Begriff missverstanden bzw. in falschen Zusammenhängen genutzt. Denn, einer der Begründer dieses Begriffs, David Sackett, fasste den Sinn wie folgt zusammen:

Evidenzbasierte Medizin ist keine “Kochbuch”-Medizin. Da es einen Bottom-up-Ansatz erfordert, der die beste externe Evidenz mit individueller klinischer Expertise und Patientenwahl verbindet, kann es nicht zu sklavischen, kochbuchartigen Ansätzen der individuellen Patientenversorgung kommen.

Externe klinische Evidenz kann die individuelle klinische Expertise unterstützen, aber niemals ersetzen, und es ist diese Expertise, die darüber entscheidet, ob die externe Evidenz überhaupt auf den einzelnen Patienten zutrifft und, wenn ja, wie sie in eine klinische Entscheidung integriert werden sollte.

Heißt: Evidence-based ist, alle Informationen zu sammeln, die es bis zum schwarzen, uns nicht mehr sichtbaren Bereich, gibt, und dann – weil der schwarze Bereich ja sozusagen der individuelle Bereich eines jeden Menschen ist – auf dieser Grundlage die bestmögliche Landkarte nachzuzeichnen.

Und das ohne Garantie, dass es tatsächlich so ist. Trotzdem wurde auf Grundlage der Beweislast (evidence) das Bestmögliche versucht, um die Karte so nachzuzeichnen, wie sie wirklich ist – bezogen auf uns: Für UNSERE EIGENE GESUNDHEIT die bestmöglichen Entscheidungen zu treffen.

Leute, die das Wort „evidence-based“ nicht verstehen, setzen sich hin und reden über gesichertes Wissen oder über Dinge, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine breite Masse (nicht das Individuum!) zutreffen.

Evidence-based, mit Blick auf die Person, die Hilfestellung leisten will, heißt aber, Ratschläge so individuell zu gestalten wie nur möglich, vor dem Hintergrund einer jeden verfügbaren Evidenz – man nimmt Menschen sozusagen an die Hand, ihre eigene Karte zu entdecken. 

Genau aus diesem Grund steht bei der evidence-based medicine nicht nur die Person im Vordergrund, die behandelt wird, sondern auch die Person, die die zu behandelnde Person an die Hand nimmt, um mit ihr zusammen den bestmöglichen Therapie-Erfolg herbeizuführen.

Dass dabei Fehler entstehen, dass sich dabei Missverständnisse oder gar Situationen ergeben, in denen der Hilfestellende sich – auch vor dem Hintergrund der Beweislast – verspekuliert, ist nicht auszuschließen. Das hat aber nichts damit zu tun, ob der- oder diejenige „wissenschaftlich“ oder „nicht wissenschaftlich“ arbeitet.

Von Möglichkeiten und Nachteilen

In unserem Forum wird seitenlang darüber diskutiert, ob Neu5Gc schädlich ist, oder nicht. Ob eine Kaffeepause für jeden ein Muss ist, oder nicht. Das hängt von so, so vielen individuellen Faktoren ab – dazu zählt beispielsweise auch, dass man sich in aller Regel ja nicht nur von Steak und Kaffee ernährt, jeder eine unterschiedliche Voraussetzung mitbringt und im Endeffekt nicht klar ist, wie die „Effektstärke“ von Neu5Gc oder oder den negativen Aspekten des Kaffees tatsächlich ist.

Was wir hier tun ist, Möglichkeiten anzubieten. Möglichkeiten, damit jeder seinen individuellen Bereich beackern kann.

Damit die Personen sich nicht irgendwann beschweren können, nach dem Motto: „Hätte ich das mal vor 20 Jahren gewusst.“

ABER: wir setzen sehr oft voraus, dass die Bereiche davor schon hinlänglich bekannt sind. Genau deswegen wird man bei uns langweiliges, weil längst gesichertes Wissen nur selten lesen. Aus Meta-Analysen oder Wikipedia zu zitieren, kann jeder. Den Leuten sagen, dass man mit PSMF am schnellsten abnimmt – kann jeder. Das ist keine Kunst. Es ist auch keine Kunst, sich dann als besonders wissenschaftlich hinzustellen, während man andere diskreditiert. Vielleicht sollte man die Ausführungen von David Sackett noch einmal ganz genau lesen.

PS: Um es nochmal klar zu sagen: „Evidence-based“ ist auch kein Freifahrtschein für Schamanen, die ihr Wissen in den Tiefen des kongolesischen Buschs erworben haben. Umgekehrt gilt: Wer sich „evidence based“ auf die Fahnen schreibt, aber im Prinzip bereits gesichertes Wissen falsch wiedergibt, der diskreditiert sich und ist nicht vertrauenswürdig mit Blick auf individuelle Hilfestellung – oder seit wann soll jemand helfen, eine neue Bereiche einer Landkarte zu erstellen bzw. zu erschließen, wenn er nicht mal die bereits bekannte Karte ordentlich wiedergibt? Ergo: Wer mal in ärztlicher Behandlung war, weiß, dass viele Ärzte noch nie irgendwas von David Sackett und Co. gelesen haben.

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

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