Viele, die sich für Gesundheit interessieren, kommen früher oder später in Kontakt mit Nahrungsergänzungsmittel. Dies liegt daran, dass es – zumindest in unseren Kreisen – immer legitimer und selbstverständlicher wird, das zu nehmen, was dem Körper fehlt oder im therapeutischen Sinne zu ergänzen, nach dem Motto: XY hilft gegen meine Herzrhythmusstörungen.
System Mensch vs. menschliche Systeme
Wir sehen den Körper dabei als System, das nur dann ordentlich funktioniert, wenn alle System-Komponenten ordentlich funktionieren können.
Das ist richtig. Richtig gedacht. Aus menschlicher Sicht.
Aus Sicht eines Organismus, der seit Jahrmillionen auf Überleben getrimmt ist, stimmt das nur bedingt. Denn ein menschliches System denkt relativ eindimensional. Nehmen wir als Beispiel das Auto. Wenn dort die Bremsscheiben kaputt gehen, dann … na ja, funktionieren die Bremsen irgendwann vielleicht nicht mehr. Das ist eindimensional. Teil geht kaputt, ganzes Auto geht eventuell kaputt – zumindest, wenn man weiterfahren würde wie bisher und wir daraus, gedanklich, eine lineare Extrapolation werden lassen.
Nun hilft diese Art des Denkens zwar, unseren Organismus besser zu verstehen und nachvollziehen zu können, was irgendwo in uns gerade schief läuft, aber es wird hinderlich, wenn wir dieses Denken stur anwenden wollen.
Denn wäre der menschliche Organismus dieses oben beschriebene kaputte Auto, dann wären dem Auto vielleicht neue Bremsscheiben „gewachsen“ oder es hätte, wie der Körper, andere „Ausweichmöglichkeiten“ bereitgestellt, um diesen Verlust der Systemkomponente zu kompensieren. Diese Vorstellung widerstrebt uns, da wir immer davon ausgehen, dass „Weniger“, „Kompensation“ oder „Alternative“ nicht gut sind oder schlechter als das, was da eigentlich hingehört.
Das sind allerdings Vermenschlichungen.
Denn wer will bestimmen, was gut ist, was da hin gehört und was nicht?
Machen Vitamine dick?
Ich will auf etwas Fundamentales hinaus: Auf die Adaptionsfähigkeit des Organismus.
Es gehört dazu, in alle Richtungen zu denken. Einige Wissenschaftler postulieren, dass es heute so viele dicke Amerikaner gibt, weil die Amerikaner nicht an Vitamin-Zusätzen sparen. Und tatsächlich weiß man, dass das ein oder andere Vitamin die Zunahme eben auch beschleunigen kann. Dieselben Autoren glauben: Schwitzt man nicht oft genug, geht eine wesentliche „Vitamin-Entgiftungsfunktion“ verloren, so, dass sich Vitamin-Abbau-Produkte vermehrt messen lassen und als Marker für eine Überdosierung genutzt werden können.
Ich glaube zwar nicht unbedingt daran, dass das so stimmt, aber interessant ist die Hypothese allemal.
Sind Mikronährstoffe „Information“?
Mikronährstoffe sollten, wie keine anderen Umwelteinflüsse, unser Genom, unsere Epigenetik, beeinflussen. Warum? Weil es diese Stoffe sind, die wir mit der Nahrung aufnehmen. Nur so kann der Körper „messen“, wie es um unsere Versorgungslage bestellt ist. In anderen Worten: Ein extrem hoher Selektionsdruck war das Nahrungsangebot. Nichts ist und war wichtiger für einen Organismus, als adäquat auf Nahrungszufuhr zu reagieren.
Stellen wir uns einmal ganz plump folgendes Szenario vor: Eine stereotypische Vorstellung von einem Schwerübergewichtigen. Der trinkt nur Cola und isst nur hochverarbeitetes Industriefutter. Was könnte passieren? Richtig: Der Körper nimmt diese Energie-Flut wahr (ganz klassisch: Leptin) und steigert den Energieverbrauch, um das Equilibrium zu halten. Was aber, wenn der Körper diese Reaktion nicht vollständig umsetzen kann, weil er glaubt, es herrsche ein Nahrungsmangel?
Sollten Mikronährstoffe hier eine Rolle spielen, könnten hochverarbeitete Lebensmittel, deren Mikronährstoff/Gesamtenergie-Verhältnis sehr niedrig ist, zu Quasi-Nahrungsmangel-Reaktionen führen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass Schwerübergewichtige eben nicht mehr mit einem erhöhten Energieverbrauch reagieren, dann, wenn sie mit Energie konfrontiert werden.
In der Natur sehen wir diese Phänomene überall. Es gibt immer „zentraler“ Schalter, die dem Organismus zeigen, wie er reagieren kann und soll. Dort aber stimmt Umwelt mit Reaktion überein. Dort ist nix verfälscht, weil der Organismus eben angepasst ist und keine Verfälschung erlaubt ist. Ein Organismus kann sich womöglich nicht 3000 „leere“ Kalorien einverleiben, sondern musste wohl, zwangsläufig, viele Begleitstoffe essen, die dem Organismus-System auch als Feedback-Signal dienen. Die also können ihre Umwelt nicht so verändern, dass „falsche“ Signale gesendet werden.
Von Vitamin D zu Eisen: Wie regulieren diese Substanzen unsere Gene?
Ich sehe derzeit große Probleme.
Ich habe meine Bedenken einmal bei Vitamin D geäußert. Heute glauben wir, wir müssten immer und ganzjährig Vitamin-D-Wert XY anpeilen. Aber so funktioniert der Körper nicht. Er mag Zyklen und Periodisierung, ein Auf und Ab wie eine Sinus-Kurve. Wieso funktioniert ein Marshall-Protokoll? Wieso kann das genaue Gegenteil eines Vitamin-D-Hochs funktionieren, wenn wir doch fest davon überzeugt sind, dass erst ein hoher Vitamin-D-Wert das Funktionieren ermöglicht? Hier könnte man denken: Okay, vielleicht ist der Körper angepasst an ein Sommer-Hoch und an ein Winter-Tief. Vielleicht ergeben sich pathologische Zustände, wenn wir diese natürliche Periodisierung umgehen – zum Beispiel dadurch, dass wir über Jahre hinweg nicht genug Vitamin D im Sommer tanken. Dies wäre, auf die Jahre betrachtet, genauso schlecht wie die Situation heute, bei der wir alle Wert XY anpeilen wollen, quasi für immer.
Darüber hinaus könnte Vitamin D im Verhältnis zu Vitamin A auch ein metabolischer Schalter sein: Vor Monaten schon habe ich einen Facebook-Beitrag verfasst. Vitamin A reguliert den Fettstoffwechsel, Vitamin D scheint ihn generell eher zu unterdrücken und programmiert auf Fettaufbau. Ergibt Sinn: Normalerweise sollte der Vitamin-D-Wert am höchsten sein … wann? Vor dem Winter, nach dem Sommer. Wann sollte der Vitamin-A-Wert relativ zu Vitamin D ansteigen? Im Winter.
Doch auch hier gilt: Ist dies relevant für alle Populationen? Spezies-übergreifend? Stimmt die Hypothese überhaupt?
Anderes Beispiel: L-Carnitin reguliert auf Muskel-Ebene nicht nur die Fähigkeit, generell Fettsäuren zu oxidieren, sondern auch den Muskelfaser-Typus. Viel Carnitin hilft dem Muskel, sich in Richtung einer oxidativen Faser zu entwickeln. Dies hat bedeutende Implikationen: Eine hohe Fettzufuhr könnte immer dann gegeben sein, wenn auch Tiere verspeist werden – und Tiere liefern enorme Mengen an L-Carnitin.
Beispiel Eisen: Eisen scheint den Glukose-Stoffwechsel zu regulieren. Wer hat die höchsten Eisen-Werte? Ein Fleischesser. Wer die niedrigsten? Diejenigen, die von Pflanzen leben. Nun sollte dies keinen Einfluss auf die Fitness (im biologischen Sinne) oder Gesundheit eines Organismus haben, solange kein Mangel vorliegt. Aber zwischen Mangel und Überschuss nutzt der Körper anscheinend die Variation, um den zellulären Stoffwechsel zu justieren, weg von der Glukose-Oxidation, hin zur Fettsäure-Oxidation.
Ein ideales Beispiel dafür, wie man selbst Probleme schaffen kann. Denn wenn wir beschließen, Kohlenhydrate zu essen, dem Körper aber die falschen Signale senden, indem wir künstlich Substanzen hinzufügen (hier zum Beispiel: Eisen), dann bauen wir uns – nicht wissend – einen „schwierigen“ Zustand. Ich glaube, das sehen wir heute. Heute essen wir recht große Mengen an Fleisch und haben Probleme. Nicht, weil Fleisch per se schlecht ist, sondern weil wir es in einer ungünstigen Konstellation verzehren. Mein kleiner afrikanischer Uni-Kollege, ganz schlank, erzählte mir neulich von den vielen Nahrungsmitteln, die die in Ruanda verzehren. Fast nur Kohlenhydrate. Aber: Der hat – vielleicht aufgrund seiner Genetik – überhaupt keine Probleme mit dieser Art der Ernährung. Umgekehrt würde ich gerne wissen, wie sich dieser Organismus verhalten würde, würde man ihn wirklich in unsere Nische setzen (mit viel Fleisch zum Beispiel) und dann zurück schicken. Würden sich metabolische Parameter verändern?
Die Natur kennt keinen chronischen Zustand
Ganz egal: Ich bekomme immer öfter Mails von Lesern, die sich auf ein ganz bestimmtes Muster festnageln wollen und dabei jeden systemischen Aspekt ignorieren. Zugegeben: Es ist tierisch schwer, zumal wir eben so viel noch nicht wissen. Aber was wir sicher sagen können: Es ist nicht richtig, deinen Organismus auch hier in eine künstliche, „aufgeblasene“ Umwelt zu setzen, chronisch und immer mit den gleichen Substanzen konfrontiert.
Kommen wir noch einmal zurück zu unseren „Nahrungsmangel-Szenario“: Heute, ganz modern, haben wir entdeckt, dass es wichtig ist, temporäre Energielöcher zu kreieren. Wir haben AMPK kennengelernt. All diese Aspekte, die eben so profitieren von … Nicht-Essen.
Okay, das ist richtig und gut. Aber stimmt dieses Bild so? In anderen Worten: Es wurde u. a. postuliert, dass Kalorienrestriktion deshalb so gut und protektiv wirkt, weil dadurch weniger Eisen aufgenommen wird. Oha! Sehr guter Gedanke. Denn weiter: Der Organismus war immer schon Nahrungsknappheiten ausgesetzt und so auch Mikronährstoff-Knappheiten. Diese natürliche Fluktuation erlaubt es dem Körper auch, sich „zu reinigen“ – Beispiel Eisen.
Nochmal: Es ist nicht richtig, einen mangelversorgten Körper noch mehr in den Mangel zu drücken. Es ist wichtig, zu erkennen, dass eine natürliche Fluktuation gegeben sein sollte.
Abschließende Worte
Also, zwei Fragen, zwei Aspekte stünden generell im Raum:
- Regulieren Mikronährstoffe den Organismus bzw. dienen sie ihm als Faktor, um die Umwelt korrekt wahrzunehmen und so adäquat auf die Umwelt zu reagieren?
- Wie sehen die „natürlichen Rhythmiken“ aus? Gibt es sie? Und wenn ja, welche Einflüsse haben sie auf den Organismus?
Das sind wohl die essentiellsten Aspekte überhaupt.
Denn dies hätte weitreichende Folgen. Vor allem mit Blick auf die Nutzung von Ergänzungsmitteln. Die Frage würde dann nämlich lauten: „In welcher Umgebung wäre ich gerne? Will ich lieber Kohlenhydrate essen oder lieber Fett? Will ich lieber Kohlenhydrate oxidieren oder lieber Fett?“ So jedenfalls könnte das beispielhaft aussehen. Und so würde man systemisch korrekt argumentieren. Wir würden uns außerdem davon verabschieden, jeden Stoff der Welt an die Blut-Höchstgrenze bringen zu wollen – frei nach dem Motto: Jeder Stoff maximal hoch, bedeutet, Leistung und Gesundheit maximal hoch.
1 comments On Mikronährstoffe sind Information
Sehr interessante Aspekte!
Gerade die jahreszeitlichen Schwankungen bringen mich ins Grübeln, da ich plane, in wärmere Gefilde auszuwandern, wo es keinen Winter gibt. Das macht mich nachdenklich, ob es so legitim ist, von uns auf andere zu schließen, vor allem vor dem Hintergrund, dass Homo Sapiens wohl recht sicher von Afrika aus den Globus erobert hat. Wie tief ist dann er WInter wirklich in unseren Genen verwurzelt? Zumal sich auf den Neanderthaler, den ich stärker mit nördlichen Gefilden verbinde, weniger als 2 % unseres Erbguts zurückführen lassen.
Das Bild vom Organismus als hochdynamisches Gebilde wird immer runder. Läuft vielleicht schon die eigentlich angenehme Gleichmäßigkeit und Sicherheit unseres westlich-zivilisierten Lebens der Gesundheit dieses Organismus zuwider?