Ernährung: Feedforward statt Entkopplung

Heute mal etwas idealistisch und philosophisch. Also: keine Garantie für perfekte Wissenschaftlichkeit.


Unsere Sicht der Dinge ist ja meistens ziemlich beschränkt – zum Beispiel auf einzelne Konzepte. Uns fehlt häufig eine gewisse Weitsicht bzw. ein „holistischer Ansatz“. Dass uns der häufig fehlt, hängt damit zusammen, dass so etwas schnell ins vermeintlich Esoterische abdriftet und deshalb gar nicht erst als Option in Betracht gezogen wird.

Werden wir mal konkreter.

Kopplung auf Mikro- und Makroebene

Viele Prozesse in der Biochemie laufen gekoppelt ab. Ein sehr bekanntes Beispiel dafür ist die Bildung des uns bekannten Stickoxids, kurz: NO. Im Prinzip besteht die NO-Synthese-Maschinerie aus einer Elektronentransportkette – am Ende reagiert Sauerstoff und Arginin und alles wird gut, es entsteht NO. Man spricht von einem gekoppelten Zustand, weil alle System-Teile reibungslos ineinandergreifen.

Anders sieht es aus, wenn ein wichtiger Baustein bei der Synthese fehlt: es entsteht nicht das gewünschte NO, sondern Superoxid, ein freies Radikal. In diesem Zusammenhang spricht man von Entkopplung – einzelne Bausteine bei der Synthese fehlen und deshalb läuft der Elektronentransport nicht gekoppelt ab. Es entsteht nicht das gesunde NO, sondern das im Prinzip giftige Superoxid.

Das war Biochemie, die Mikroebene. Kann so etwas nicht auch auf der Makroebene passieren?

Setzen wir einen Löwen in den für ihn falschen Lebensraum, entkoppeln wir ihn bzw. seinen Organismus. Wir machen so gesehen ein fein abgestimmtes System kaputt. Denn seine Physiologie ist angepasst an die Umwelt, in der er groß wurde. In einem etwas größeren Zusammenhang spricht man diesbezüglich nicht umsonst von Ökosystem. Denn auch er ist wiederum Teil eines größeren Systems, das von ihm abhängt.

Lebt der Mensch „entkoppelt“?

Wir Menschen haben das anders gemacht.

Wir haben „möglicherweise“ auch mal gekoppelt gelebt. Und tatsächlich dürfte es so sein, dass derjenige am besten (oder „gesündesten“) lebt, der es schafft, diese Kopplung weitestgehend wiederherzustellen. Unser Verstand spielt uns dabei aber einen Streich, weil wir oft felsenfest davon überzeugt sind, dass wir diejenigen sind, die uns hier durch die Welt steuern.

Das dürfte ein großer Irrtum sein. Denn erst wenn wir glauben, wir müssten die Entscheidungen treffen, entkoppeln wir häufig. Mehr noch: Normalerweise sollte ein gesunder Körper automatisch dafür sorgen, dass wir gekoppelt leben. Wird der aber krank bzw. stellen sich bei ihm Dysfunktionen ein, entkoppelt er automatisch und sorgt leider dafür, dass wir häufig noch kränker werden.

Das, was uns Menschen von Tieren – mit Blick auf Gesundheits- und Figurfragen – in den meisten Fällen unterscheidet, ist, dass wir oft davon ausgehen, wir müssten rational die Lösung erarbeiten: Also, alle drei Wochen eine Diät machen. Wieso muss kein Löwe nach dem ausgiebigen Fressen über eine Diät nachdenken? Genau: er lebt noch gekoppelt, er isst das für ihn Richtige und Sättigungsmechanismen werden ihn davon abhalten, weiter zu fressen – abgesehen davon, dass die Kopplung an seinen Lebensbereich außerdem dafür sorgt, dass er sich bewegen muss, wenn er essen will.

Aus Kopplung ergibt sich Feedforward

Zusätzlich dürfte sich ein Feedforward ergeben.

Gehen wir mal davon aus, dass die Kopplung es gut mit uns meint, dann könnte man ja auf die Idee kommen, dass der Löwe in der Savanne proportional zu dem, was er isst, Stoffe zuführt, die helfen, das, was er gerade gegessen hat, a) ordentlich zu verarbeiten und b) so zu verarbeiten, dass er keinen Schaden davon nimmt, sprich: stoffwechselgesund bleibt.

Und tatsächlich: Wenn so ein Löwe die kilogrammschwere Leber eines anderen Tieres frisst, wird er zeitgleich hohe Mengen Vitamin A zu sich nehmen, aus dem das Hormon Retinsäure entsteht, die in Tiermodellen dosisabhängig die Bildung jener Proteine forciert, die am Abbau des eigenen Körperfetts beteiligt sind. Nur, um ein Beispiel genannt zu haben.

Für einen Gorilla, der an einen anderen Lebensraum angepasst ist, dessen Physiologie also anders gekoppelt ist, gelten dieselben Regeln, allerdings mit einer anderen Wortwahl:

Die “geniale” Idee: Man hat ihnen statt dem “Kraftfutter” einfach ihre ursprüngliche Nahrung gegeben, also, so gut es eben ging. Wir erinnern uns kurz: Gorillas sind Herbivoren und fressen fast ausschließlich Blätter und Co. Sie verfügen über einen riesigen Bauchraum, damit der (Dick-)Darm genug Platz hat, denn dort werden die Ballaststoffe der Blätter via Bakterien zu kurzkettigen Fettsäuren verstoffwechselt … Und davon lebt der Gorilla.

Die Gorillas haben dann den ganzen Tag gegessen, wie in der Wildbahn, doppelt so viele Kalorien als zuvor, aber haben massiv an Gewicht (ca. 30 kg) verloren. Das Schmankerl bei der Story war, dass die Primaten alle mit einer “Centrum Silver”-Tablette versorgt wurden. Ein Multivitamin-Präparat.

Zitat aus einem unserer Artikel.

„Gesund“ ist nicht gleich „gesund“

Ich bin ein großer Fan von der Botschaft der Bücher Nourishing Traditions und Gefährdete Menschheit. Denn sie legen mit viel Fingerspitzengefühl, weil weitsichtig, nahe, was für uns Menschen – zumindest was die Ernährung angeht – tatsächlich wichtig ist. Es taucht die Bedeutung von bestimmten Stoffen auf, die man vorrangig in Organen, Fetten von Tieren und fermentierten Lebensmitteln findet – heute spricht man von Vitamin K2 verschiedener Längen und entdeckt – nach dem Hype um Vitamin D – zunehmend die Bedeutung von Vitamin A bzw. der Retinsäure.

Bei uns in der Provinz bleiben Menschen erstaunlich fit und gesund, sofern sie nicht zu deutlich von solchen traditionellen Ernährungsweisen abweichen.

Doch Vorsicht: Wir haben schon einmal nahegelegt, dass BMI und Co. im Prinzip nur Surrogatmarker sind, die keine Aussage über die Vitalität (und damit: „Gesundheit“) und Co. treffen. Das heißt: Es ist nicht selten so, dass jemand augenscheinlich vital und fit wirkt, obwohl er übergewichtig ist. Denn auch das dürfte stimmen:

Es gibt einen Trade-off, den der Körper eingeht, um weiterhin bis zu einem gewissen Grad gekoppelt leben zu können: Um an die von ihm verlangten, oben genannten Stoffe zu kommen, kann es sein, dass er kalorisch betrachtet überkompensiert.

Daraus wird sich das paradoxe Bild des übergewichtigen, aber reproduktiv aktiven und fitten Menschen ergeben – vermutlich besser als ein Mensch, der nach Surrogatmarkern gesund ist (niedriger BMI und Co.), aber keine Vitalität oder „reproduktive Fitness“ aufweist. Kippt dieser Trade-off zu stark in eine Richtung, sprich: überkompensiert der Körper kalorisch betrachtet zu stark, weil die Ernährung zu arm an den wichtigen Stoffen ist (McFlurry bei McDonalds enthält immerhin 300 IE Vitamin A!), wird er krank.

Perfektionismus entkoppelt

Wieso ich das schreibe? Weil ich seit Jahren mit vielen Menschen in Kontakt bin, die voll perfektionistisch jedes Buch über Ernährung kennen, alle Konzepte bis zum Erbrechen gelebt haben, jeden Mikronährstoff der Welt und alle Blutwerte studieren, aber fast mit Tränen in den Augen zusammenbrechen, weil sie nicht verstehen können, wieso „sie sich so viel Mühe geben, alles richtig machen und trotzdem einsehen müssen, dass es so viele Menschen im Umfeld gibt, die sich noch nie damit befasst haben, denen es aber super geht“ – während es ihnen in den seltensten Fällen mal wirklich gut geht und der Körper mal wirklich so funktioniert, wie er soll.

Damit wir wenigstens ein bisschen korrekt bleiben: Diese Korrelation kann natürlich auch anders interpretiert werden. Jene, die eher von Haus aus krank sind, werden nach „der perfekten Ernährung und Co.“ suchen. Während solche Menschen, die eher selten gesundheitliche Probleme hatten, sich auch nicht sonderlich für Ernährung und Co. interessieren.

Dennoch gilt: Die Brechstange und der Perfektionismus hilft in den meisten Fällen nicht, denn die entkoppeln. Man kann seinen Körper nicht in die Spur finden lassen, wenn man alles verkrampft mit dem Kopf steuern möchte. Umgekehrt ist es leider häufig so, dass jene Leute, die nie über Ernährung und Co. nachdenken, essen, schlafen, sporteln … wie es ihnen beliebt – und leider besser leben.

Ich glaube, wir unterstellen dem Körper zu häufig Dummheit – und zeitgleich gehen wir davon aus, dass jene Menschen, die sich durch Nicht-Beschäftigen mit Ernährung und Co. in den Körper fallen lassen, dumme Entscheidungen treffen. Ich glaube: Selbst ein Körper, der nur noch „halb funktioniert“, trifft auf Basis seiner Jahrmillionen alten Entwicklungsgeschichte, bessere Entscheidungen als ein paar Jahrzehnte alter Verstand – sofern man ihn nicht zu stark entkoppelt, sprich ihm seinen Bacon wegnimmt. ;-)

Ein Erklärungsansatz.

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

7 comments On Ernährung: Feedforward statt Entkopplung

  • Ein guter Artikel, der allerdings das zentrale Problem umschifft: Wie verstehe ich die Signale meines Körpers? Wie soll ich Intuition wiederherstellen, wenn Umweltfaktoren (Wohnort, Umgebung, Familie, etc.) nahezu arbiträr bzw. selbstgewählt sind/werden müssen? Und: Ist jede Ernährungstradition wirklich gut für mich? Wie weit sollte/darf Wissen(schaft) hier gehen?

    disclaimer: Ich bin einer derjenigen, die „fast mit Tränen in den Augen zusammenbrechen, weil sie nicht verstehen können, wieso ’sie sich so viel Mühe geben, […]‘ – während es ihnen in den seltensten Fällen mal wirklich gut geht und der Körper mal wirklich so funktioniert, wie er soll.“

    • Guter Input, Markus. Wir „umschiffen“ das deshalb, weil genau das die schwierigsten Kernfragen sind. Der Inhalt des Artikels ist so gesehen nur das Gerüst.

      • Es wäre spannend diesbezüglich mehr von euch zu hören. Neben (offenbar) umstrittenen und letztlich schwer zu bewertenden „Stoffwechseluntersuchungen“ und pauschalisierenden allgemeinen Aussagen sehe ich keinen externen Weg das individuell passende zu finden (von offensichtlichen Zeichen wie Adipositas, Allergien, etc. abgesehen). Wie aber die „Intuition“ anzapfen, die sich von objektiven, potentiell verfälschenden Indikatoren emanzipieren muss? Hilft hier „Achtsamkeit“ o.ä.? Was, wenn meine Intuition mir immer sagt, ich solle Käsekuchen essen? Wie viel Disziplin (und damit Steuerung) muss ich dem entgegensetzen?

        (Immer vorausgesetzt ist natürlich, dass wir in einer idealen Welt leben, in der der individuellen Lebensgestaltung keine ökologischen oder ökonomischen Schranken gesetzt sind, d.h. ich mir, wenn das für mich „natürlich“ ist, auch ein Weiderindsteak leisten kann.)

  • richtig guter artikel wie immer!!!

  • Ein schöner Artikel.
    Aber.. :)
    Leider sind wir seit langer Zeit in einen Lebensstil erzogen worden.
    Ich meine, wir leben, wie wir es von unseren Eltern beigebracht bekommen (richtig oder falsch sei mal dahin gestellt, denn niemand weiss so genau was richtig oder falsch ist). Uns fehlen Alternativen.
    Nur wer viele Möglichkeiten kennt, kann sie auch nutzen.
    Es ist also wichtig über verschiedene Konzepte zu sprechen.
    An jedem Einzelnen liegt es, gelassen zu bleiben und für sich selbst das Richtige herauszusuchen.
    Und auch wenn wir glauben, das Richtige gefunden zu haben, muss das nicht für alle Zeiten so bleiben, da der Körper sich immer wieder verändert.
    Es ist schon Ok, wenn viele Ernährungsgurus viele verschiedene Konzepte vorstellen. Niemand ist gezwungen sie alle zu testen.
    Locker bleiben und in sich hineinfühlen ist eine gute Möglichkeit gesund zu werden/bleiben.

  • Danke für diesen Artikel ?
    …und ich mags esoterisch ?

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