Schlafmützen sind wir.
Wenn jeder wüsste, wie viel Geld in die Forschung gesteckt wird, um übergewichtigen Menschen zu helfen. Aber nicht, weil die irgendwie krank sind, sondern … na ja … Was sagt man zu solchen Menschen? Die selbst induziert und gerne korpulent sind? Vielleicht psychisch krank?
Das Gleiche könnte man über diejenigen sagen, die immer anderen, neuen Ernährungstrends folgen.
Überhaupt, unsere ganze Gesellschaft ist „Plastik“. So jedenfalls hat mir das mein Freund aus Ruanda formuliert. „Afrikaner denken alle, Europa sei der Himmel, sobald du dort bist, hast du alles.“ Falsch gedacht! Nach drei Jahren Deutschland, spricht übrigens perfektes Deutsch, hat er keine Lust mehr auf diese Plastik-Welt. Das Essen schmeckt nicht. Und in Ruanda kann er mit seinen Äffchen spielen. Hier geht man entweder in die Bar oder ins Kino.
Art de Vany brachte genau das einmal auf den Punkt: Wir sind kränkelnde, verweichlichte Zoo-Tiere, eingesperrt in einer künstlichen Welt, eingesperrt im Hamsterrad unseres täglichen Schaffens – und merken es nicht. Denken, das sei normal.
Was ist Leben?
Die Antwort finden wir in einem Interview, erschienen auf welt.de.
Thürmer gilt als meistgewanderte Frau Deutschlands. Unter dem Namen „German Tourist“ hat sie – 1967 in Forchheim geboren – es auch in der internationalen Hiker-Szene zu Berühmtheit gebracht.
Hier wird also viel gewandert, sehr viel.
Was isst man da?
Christine Thürmer: Immer das Gleiche: zum Frühstück ein halbes Pfund Müsli mit Wasser, über den Tag verteilt 400 Gramm Schokolade, Gummibärchen, Nüsse oder eine Dose Nuss-Nougat-Creme. Mittags und abends gibt es eine Tütensuppe, einen Pasta-Snack, Instantkartoffelpüree oder Tortillas mit Erdnussbutter – das spart Brennstoff.
Ich kaufe bei den Wanderungen danach ein, was die höchste Kalorienzahl in Relation zum Gewicht hat. Im Endeffekt geht es darum, so viel Energie wie möglich in leichtmöglichster Form mitzunehmen. Zur normalen Verpflegung kommen ja noch die Fressattacken, der „Hiker-Hunger“. Sechs Schokoriegel am Stück? Kein Problem. Alles dreht sich nur noch ums Essen.
Siehst du. Das war Homo sapiens. Wandernd. Überhaupt keine Ahnung von Ernährung. Aber hier wird deutlich, warum wir, als einziger Primat, einen so langen Dünndarm, aber kürzeren Dickdarm aufweisen. Wir hatten die gleichen Probleme: Wir brauchten die maximale Anzahl an Kalorien pro Gewichtseinheit.
Homo sapiens ist lt. Lieberman der wandernde Primat. Perfekt ausgestattet, um genau das zu tun. Nur mit … na ja, den daraus resultierenden Problemen, wie hohem Energie-Verbrauch.
Wir glauben, Müsli mache fett. Und Schokolade. Und Gummibärchen. Alles krank- und fett machend. Ja, in unserer Welt stimmt das. In der Welt von Frau Thürmer wieder nicht.
Auch geschildert wird, was in unserer Evolution passierte, während des Übergangs vom Jäger-Sammler-Dasein hin zu unserer heutigen Situation:
Thürmer: Ich habe tatsächlich starke Gewichtsschwankungen. Ich nehme beim Wandern bis zu zehn Kilo ab – die ich anschließend in kürzester Zeit wieder drauf habe, wenn ich meine Essgewohnheiten nicht sofort wieder umstelle. Und das ist schwierig.
- Normales, artgerechtes Leben: 10 Kilo weniger trotz hoher Kaloriendichte (nenne es: Mammutfett)
- Künstliches, nicht-artgerechtes Leben: 10 Kilo mehr wegen hoher Kaloriendichte
Und dann das, was wir nie verstehen. Der Moment, wenn die Seifenblase platzt. Das, was mein Freund aus Ruanda mir so eindringlich mitteilte:
Als ich mit dem Langstreckenwandern angefangen habe, kam ich aus einem normalen Job – Firmenwagen, Sekretärin, überdurchschnittliches Einkommen. Ich konnte mir alle Hotels, alles Essen dieser Welt leisten. Und dann kommen Sie plötzlich auf so einen Trail und stellen fest, dass alles, was sie wirklich brauchen, vier Dinge sind: Wasser, Essen, Wetterschutz und Wärme. Und die habe ich beim Wandern auf dem Rücken – 5,5 Kilogramm schwer insgesamt.
Wenn Sie dann in die Stadt kommen und eine Dusche sehen, sind Sie der glücklichste Mensch der Welt – wegen einer Dusche. Das gilt auch für Lebensmittel. Sie glauben gar nicht, was für eine Erleuchtung ein Schokoriegel mit sich bringen kann. Das ist ein direktes, sehr körperliches Glücksgefühl – besser als jede Gehaltserhöhung, besser als jede Droge.
Wir leben in einer Traumwelt, glauben der Porsche, das Gehalt, das Haus sei wichtig.
Die Wahrheit: Alles, was man wirklich braucht, ist Wasser, Essen, Wetterschutz und Wärme.
Man wird der „glücklichste Mensch“ wegen einer Dusche und eines Schokoriegels, besser als jede Gehaltserhöhung.
Thürmer: Ja. Wenn die Glücksschwelle sich senkt, machen einen plötzlich die kleinsten Dinge glücklich.
Dopamin-Detox. „Wenn die Glücksschwelle sich senkt“. In anderen Worten: Wenn man mal aufhört, sein Gehirn mit Dopamin zu mästen und wieder … normal wird im Kopf. Dann machen plötzlich auch wieder die kleinen Dinge glücklich.
Und wir? Ich sage besser nichts dazu.
Und der viel zitierte Steinzeitmensch? Wieso hatte der nie psychische Probleme? Was war, neben dem Dopamin-Entzug, sein Geheimnis?
Thürmer: Nein, die Kombination aus Frischluft und körperlicher Bewegung ist für mich persönlich die Quelle meines Wohlbefindens und Glücks.In der Psychologie nennt man das „Flow“ – eine Tätigkeit, die zwar die Aufmerksamkeit erfordert, einen aber weder über- noch unterfordert. Und abends liegt man müde, aber glücklich in seinem Zelt – weil man weiß, dass man etwas getan hat.
Das hatte ich versucht, meinen Lesern via Handbuch mitzuteilen. Das kam nicht bei allen an. Da bin ich mir sicher. Weil sie noch immer in ihrem Dopamin-Rausch versacken und die Wichtigkeit nicht verstehen wollen.
Und was können wir noch zum Thema „Radical Simplicity“ oder „Minimalismus“ lernen?
Thürmer: Im Gegenteil, so wenig mit sich herumzutragen ist ein echter Gewinn. Sie müssen sich auch keine Gedanken darüber machen, was Sie anziehen – Sie haben ja nicht viel dabei.
Das gilt natürlich nicht nur für die Kleidung, sondern … vielleicht auch für unseren ganzen Luxus?
Und, weil das Interview nicht schön genug war, gibt’s auch noch den Mittelfinger gratis. Den Mittelfinger an all die Leute, die – wie zum Beispiel einige Veganer – die Natur schützen wollen, aber Kokoswasser trinken und Mango essen.
Oder anders ausgedrückt: Leben kostet Leben.
Thürmer: Auf gar keinen Fall. Vermeintliches Gutmenschentum geht mir höllenmäßig auf den Senkel. Die Leute denken, man müsse sich nur in die unberührte Wildnis Alaskas oder Patagoniens begeben – und schwups ist man ein besserer Mensch. Das ist wie „fucking for virginity“.
Wenn Sie wirklich „öko“ und „bio“ sein wollen, sollten Sie nicht durch die unberührte Natur trampeln. Und auch auf einer Blumenwiese zu meditieren wird Ihnen da nicht helfen. Die körperliche Anstrengung verändert Sie – Blut, Schweiß und Tränen, das Leben im Dreck. Aber mit „Om“ und Rosenduft hat das nichts zu tun.
Heißt: Bevor jemand mit dem Finger auf andere zeigt, sollte er gut darüber nachgedacht haben, ob er selbst bereits vorbildlich lebt. Und das ist in unserer Gesellschaft nahezu ausgeschlossen. Wir benutzen nun einmal Klopapier.
Diese Frau hat in einem Interview alles auf den Punkt gebracht.
Mehr gibt es dazu wahrlich nicht zu sagen.
Es reicht, wenn du es auf dein Leben überträgst. Dann hast du auch „das wahre Leben“ des Homo sapiens verstanden. Das in etwa so ausgesehen hat:
Im Denali-Nationalpark in Alaska beispielsweise haben Sie wirklich unberührte Natur – und das ist die Hölle. Auf diesen Moosböden zu gehen fühlt sich an, als ob sie auf Medizinbällen laufen, die auf einem Wasserbett gelagert sind. Sie sacken die ganze Zeit ein, müssen dabei aber jede Menge Krach machen, um die Grizzlybären zu verscheuchen. Aber wenn Sie den Mund aufmachen, fliegen die Moskitos rein.
Wir sind Zoo-Tiere.
8 comments On Das wahre Leben des H. sapiens – ein Interview
Was ich mich allerdings frage: Wo bekommt man dann sein Geld her wenn man wirklich mal seine Vorräte auffüllen, wo schlafen möchte oder sonst etwas? In unserer heutigen Welt ja nicht so einfach. Ich nehme an die Frau arbeitet ja nicht, wenn sie so viel unterwegs ist, oder? Trotz allem großen Respekt und toller Artikel. Würde mich eben nur interessieren. LG Christoph
Sie hatte vorher einen sehr gut bezahlten Job (ergibt sich aus dem Interview), ich nehme daher an, daß die Finanzierung aus Ersparnissen kam.
Ein äusserst excellenter Artikel – sehr lesenswert und stimmt nachdenklich!
Stimmt, top Artikel. Habe letztes Jahr selbst ein halbes Jahr Auszeit vom Job genommen und bin mit Rucksack durch Kanada, Guatemala und Chile gereist, inkl. einiger Touren mit Zelt durch die Pampa. Ich kann Frau Thürmer nur recht geben, zu den Flow Erlebnissen gesellen sich immer auch einige „Leck mich doch am arsch, warum tu ich mir das eigentlich an“-Erfahrungen. Wichtig ist das letztere nicht überwiegen.
Seit drei Monaten Stecke ich wieder im Dopamin-Hamsterrad, in dem mich vor allem meine sozialen Beziehungen und meine Heimatverbundenheit halten. Die Kunst ist es natürlich Elemente des Trips hier in den Alltag zu integrieren… Leider nicht ganz einfach.
Schon lange nicht mehr einen so guten Artikel gelesen. Dein Rant bringt es letzten Endes genau auf den Punkt. Wir sind eine absolute Überfluß-Gesellschaft. Wir haben von allem zuviel und glauben wir haben von allem zuwenig.
In den letzten Jahren hatte ich einen Alkohol-Detox, Nikotin-Detox, in den letzten Monaten einen Koffein-Detox. Ich denke ein Dopamin-Detox sollte auch auf die Liste kommen. Wenn man zu viel von einer Substanz nimmt, hat es keinen Effekt und keinen Wert.
Und gerade Glück sollte von Wert sein.
Vielen Dank für diesen Artikel!
Hi Chris,
schöner Artikel. Bringt es sehr treffend gut auf den Punkt.
Was noch fehlt ist die „Dankbarkeit“ als Glücksfaktor. Sich immer wieder bewusst werden, das wir hier im Pardies leben und so viele Möglichkeiten und tolle Bedingungen haben, wie sonst kaum auf einem Flecken dieser Erde.
Das mekrt man aber nur, wenn man mal seine gewohnte Umgebung verlässt und sich in der Welt umsieht und das typisch deutsche Genöle und unablässige Frustgetue hinter sich lässt.
DANKE!
Werner
Danke dir für die Ergänzung!