Das Problem der selektiven Wahrnehmung

Beispiel:

„Green tea extract protects against XY induced cancer“.

Deutsch: Grüntee schützt vor Krebs, ausgelöst durch XY.

Das klingt gut. Zusammen mit seiner nachgewiesenen Fähigkeit zur Steigerung der Fettsäure-Oxidation und der Wirkung auf Neuronen, das heißt Nervenzellen (des Gehirns), wird daraus direkt ein Verkaufsschlager. Und jeder springt auf den Zug.

Doch wer arbeitet denn (täglich) mit Blutwerten? Fast niemand.

Ich arbeite mit Blutwerten und bekomme fast täglich Werte zugeschickt.

Euer Problem ist jetzt gerade – meistens – nicht der Krebs oder das Gehirn, sondern

  • zu wenig freies T3 (aktives Schilddrüsenhormon),
  • zu wenig freies Testosteron.

Trijodthyronin, auch kurz T3, ist dein Stoffwechsel. Es gibt keine andere Substanz im menschlichen Körper, die das Protein PGC1-alpha so steuert (Uni Hamburg Eppendorf, 2003).

Und PGC1-alpha ist der Masterregulator der mitochondrialen Biogenese, also der Ort, wo überhaupt erst Fett verbrannt wird.

Und mit T3 steigt und fällt auch die Rezeptor-Sensitivität für Hormone: Wachstumshormon, Insulin etc.

Das sollte man heute (!) wissen, denn Insulin-Resistenz ist so das nächste Problem, das die meisten von euch haben.

Und: Wer erzählt euch, dass man Anheben der T3-Werte auch effektiv die Testosteron-Werte normalisieren kann? Niemand.

Was zu wenig Testosteron bedeutet, das weiß jeder, der den Unterschied zwischen Frau und Mann kennt. Das häufigste Problem bei euch ist nicht, dass ihr plötzlich keinen Bartwuchs mehr habt, sondern dass ihr Speck am Popo und am Trizeps bekommt, Fett am Bauch, das auch mit der härtesten Diät niemals verschwindet. Euer Problem ist außerdem, dass ihr euch fühlt wie ein Babyhund. Wie soll man denn da ordentlich leben?

Und da kommt Grüntee ins Spiel:

(a)  In the 13-week study, 10 rats of each sex were administered diets containing P-60 at 0 (control), 0.625, 1.25, 2.5 and 5.0%. Goiters were observed in the 13-week test. The mean thyroid weight of rats fed a diet containing 5.0% of P-60 (5.0% group) significantly increased to 444% of the control in males and to 304% of the control in females. Histological examinations of the thyroid of the 5.0% group revealed marked hypertrophy and/or hyperplasia of the follicles, some with depletion of colloid and some with rich colloid, and formation of a fibrous capsule.

(Sakamoto et al., 2001)

P60 ist ein (Grüntee-)Catechin-Extrakt. Diverse Dosen wurden getestet und mit einer Dosis von 5% ver-4,5-fachte sich das Gewicht der Schilddrüse. Wer nicht weiß, was das heißt: Die Schilddrüse bekommt nicht genug Jod und dann wird sie groß.

5% war tatsächlich eine hohe Dosis. Aber ich kenne die niedrigen T3-Werte von euch. Jedes Molekül im Körper, das auch nur ein bisschen verhindert, dass Jod in eure Schilddrüse kommt, kann den Unterschied machen zwischen einigermaßen funktionsfähig und tief-depressiv.

Wenn jemand mit fT3-Wert von >4 durch die Gegend läuft, dann werden ein paar Tassen Grüntee akzeptabel sein. Aber … 1 von 10 hat so einen Wert.

(b) Results of in vivo studies showed that green tea extract (GTE) at mild (1.25 g%, identical to 5 cups of tea/day), moderate (2.5 g%, identical to 10 cups of tea/day) and high (5.0 g%, identical to 20 cups of tea/day) doses, for a period of 26 days, altered morphology and histology of testis and accessory sex organs. A significant dose-dependent decrease in the sperm counts, inhibited activities of testicular delta(5)3beta-and 17beta-hydroxysteroid dehydrogenase (delta5-3beta3-HSD and 17beta3-HSD respectively) and decreased serum testosterone level were noticed. Significant increase in serum LH level was observed after moderate and high doses; serum FSH level also increased but not significantly.

(Chandra et al., 2011)

  • Morphologie-Veränderungen der Geschlechtsorgane,
  • dosis-abhängige Reduktion der Spermien-Konzentration,
  • weniger Testosteron,
  • deutlicher Anstieg von LH.

Das heißt für mich: Nie wieder Grüntee.

Ich bin deshalb so empfindlich, weil ich meine eigenen Testosteron-Werte kenne und die vieler Klienten hier. Und klar, Grüntee wird niemanden umbringen, aber wenn etwas schon kellertief ist, muss man es nicht noch mehr „provozieren“.

Am Beispiel Grüntee kann man also zeigen, dass „eine positive gesundheitliche Wirkung = nur positive Wirkungen“ eine grundfalsche Annahme ist, mit der man sich durchaus ins Verderben stürzen kann.

Der Text ist von mir, Chris Michalk. Fast zwei Jahrzehnte war ich dem Leistungssport treu und studierte als Folge Biologie und drei Jahre Sport. Leistungsphysiologie war mein Hauptinteresse, das mich vor circa 15 Jahren dazu gebracht hat, Studien zu lesen. In Folge einer Stoffwechselerkrankung gründete ich den Blog edubily und verfasste zusammen mit meinem Kollegen Phil Böhm mehrere Bücher (u. a. "Gesundheit optimieren, Leistungsfähigkeit steigern"). Ich machte meinen Abschluss in zellulärer Biochemie (BSc, 1,0) – und neben meinem hier ausgelebten Interesse für "Angewandte Biochemie", bin ich zusammen mit Phil Böhm Geschäftsführer der edubily GmbH.

2 comments On Das Problem der selektiven Wahrnehmung

  • Sehr spannend mit dem Grünen Tee bzw. P60! Jetzt konsumieren die Japaner aber auch hohe Dosen an Jod. Könnte das vielleicht wiederum den Effekt, dass die Schilddrüse nicht genügend Job bekommt abmildern?

  • Hallo Chris,

    erstmal DANKE für den genialen Blog und auch für das ebook..mir sind in den letzten Tagen einige Lichter aufgegangen und ich werde auch sobald wie möglich meine Blutwerrte bestimmen lassen ;)

    Deine Meinung zu grünem Tee finde ich interessant, vor allem da ich eigentlich relativ viel davon trinke (4-5 Tassen pro Tag, vor allem während der Fastenphase) wegen der fettverbrennenden Wirkung.

    Tritt die von dir beschriebene negative Wirkung auf die Schilddrüse und das Testosteron auch auf, wenn man weißen Tee statt grünem trinkt? Habe kürzlich gelesen, dass weißer Tee in seiner fettverbrennenden Wirkung noch potenter ist als sein grüner Bruder und wollte mal nachfragen, was du dazu denkst/weißt.

    Vielen Dank und beste Grüße
    JF

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